Nicht alle waren Nazis
Die Geschichte der Juden in Leipzig reicht weit über Verfolgung hinaus. Ein Überlebender erzählt.
„Dass ich anders war, bemerkte ich zum ersten Mal am Morgen des 10. November 1938. Aus der Färberstraße 11 wurde jemand heraus gezerrt und in einem Auto verschleppt. Jemand, den ich sehr gut kannte: der jüdische Hausmeister. Die Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße brannte, Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte in der Innenstadt waren eingeschlagen und aus dem jüdischen Warenhaus ‚Bamberger&Hertz‘ am Augustusplatz stiegen große schwarze Rauchwolken auf“, so skizziert Rolf Isaacsohn seine persönlichen Erinnerungen an die Reichspogromnacht in Leipzig.
Die Novemberpogrome waren der Beginn der systematischen Verfolgung der Juden durch das nationalsozialistische Regime Adolf Hitlers. Die Zahl der jüdischen Todesopfer in dieser Nacht wird im deutschen Reich auf 400 geschätzt, in Leipzig wurden in der Reichskristallnacht mehr als 534 Bürger jüdischen Glaubens verhaftet und verschleppt.
Bis 1942 wurden mehr als 3000 Leipziger Juden in Konzentrationslager wie Auschwitz, Birkenau, oder Theresienstadt deportiert, andere flohen. Es sind Menschenleben, die die Stadt gezeichnet haben, sie haben ihre Spuren in den Straßen Leipzigs hinterlassen.
Im Alter von nur fünf Jahren musste Rolf Isaacsohn diese Bilder des Grauens mit ansehen und die folgenden Jahre, geprägt von Antisemitismus und Krieg, miterleben. „Die Zeit von 1938 bis1945 beschäftigt mich bis heute noch jeden Tag“, gesteht der 82-jährige. Seine Stimme ist ruhig und gefasst als er beginnt von seiner Kindheit zu erzählen. Als einziger Sohn wurde er am 6. April 1933 in eine jüdisch-protestantische Familie hinein geboren. Damit die Eltern heiraten konnten, musste seine Mutter erst zum Judentum konvertieren: „Mein Vater stammte aus einer sehr frommen jüdischen Familie.“ Für die Mutter hingegen sei Religion nicht sehr wichtig gewesen, der Übergang zum Judentum habe sie nur „pro forma“ vollzogen.
Die Besonderheit dessen, sowohl Jude als auch Christ zu sein, war dem jungen Isaacsohn nicht bewusst. Weder in seinem Alltag noch in der Erziehung spielte Religion eine wichtige Rolle. Schöne Erinnerungen werden dennoch bei dem Gedanken, an das gemeinsame Chanukka, das jüdische Lichterfest, und Weihnachten feiern wach. „Solange es noch möglich war, besuchte er mit seiner jüdischen Großmutter Diana Isaacsohn an Feiertagen die Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße.
Ein Magnet der Zusammengehörigkeit, der Sammelpunkt des jüdischen Lebens sollte sie werden. Nach nur einjähriger Bauzeit wurde die Synagoge in der Gottschedstraße am 9. September 1855 eingeweiht. Auf 4500 Quadratmetern sollten 1600 Menschen Platz finden. Eine viel zu optimistisch gewählte Anzahl. Denn ob das Gotteshaus jemals vollständig gefüllt war, sei fraglich. Doch es sollte die Weltoffenheit der Messestadt Leipzig demonstrieren.
Doch erst durch eine Gestzesregelung aus dem Jahre 1837 wurden jüdische Gemeinden in deutschen Städten vollends legalisiert. Kaufleute und Bankiers, vorrangig aus Westeuropa und westlichen deutschen Städten, liesen sich nieder, allen voran Jacob Nachod. Der aus Dresden stammende Bankier rief den jüdischen Hilfsverein „Gesellschaft der Freunde“ in Leipzig ins Leben, woraus 1847 die israelitische Gemeinde hervorging. Was mit nur etwa 50 Mitgliedern begann, stieg stetig weiter an. Ende des 19. Jahundert hatten vor allem Juden in Osteuropa immer mehr mit Antisemitismus zu kämpfen, worauf über 2.000 orthodox- geprägten Gläubige in der bisher liberal eingestellten Gemeinde eine neue Heimat fanden.
1900 war auch der junge Rabbiner Ephraim Carlebach nach Leipzig gekommen. Zwölf Jahre später gründete er die Höhere Israelitische Schule. „Carlebach hat sich stark gemacht für mehr Toleranz im Judentum selbst und auch darüber hinaus“, konkretisiert Plowinski. Noch nach seiner Emigration nach Jerusalem im Jahr 1935, waren bis 1938 auch nicht-jüdische Lehrer an der Schule beschäftigt. Auf seinen Grundsätzen gründete sich 1992 die gemeinnützige Carlebach Stiftung. Projekte in Bereichen von Forschung, Bildung, Kunst oder Kultur sollen an die Geschichte und die Rolle jüdischer Bürger in Leipzig erinnern. Ephraim Carlebach war es auch, der 1924 als Erster, neben einem liberalen, die Stelle als orthodoxer Gemeinderabbiner inne hatte.
Die folgenden Jahre sollten die Blütezeit der jüdischen Gemeinde Leipzigs sein. 1925 umfasste die Gemeinschaft etwa 13.000 Mitglieder und war damit die sechs größte jüdische Gemeinde Deutschlands. „In dieser Zeit gab es 17 verschiedene Synagogen, sodass jeder religiöse Ritus in einer anderen Synagoge gelebt werden konnte“, legt die Historikerin dar. Die große Gemeindesynagoge sei etwa sehr liberal gewesen und Ort vieler Konzerte und anderer Veranstaltungen. Doch nur bis zum 11. November 1938. Gezwungen von den Nationalsozialisten musste die israelitische Religionsgemeinde selbst, das Gebäude abreisen.
Passiert man heute den Platz an der Gottschedstraße/Ecke Zentralstraße erinnern nur noch eine Installation aus 140 Stühle und eine bronzene Gedenktafel an die faschistische Tat. „Vergesst es nicht“, appelliert der Gedenkstein vor dem 2001 errichteten Mahnmal.
Es ist dieser kurze Moment, etwa eine Minute, der Rolf Isaacsohn nicht vergessen lässt. Am 10. Mai 1942 verkündeten ihm seine Eltern: „Du gehst dich nun von der Oma verabschieden. Die Oma geht auf Transport.“ In der Aula der jüdischen Schule mussten die einstigen Bürger Leipzigs auf ihre Deportation warten. Bereits 1940 musste Diana Isaacsohn aus ihrer Wohnung in der Bauhofstraße 6 in ein sogenanntes „Judenhaus“ in die Humboldtstraße 4 umziehen. 1942 sollte es dann endgültig „judenrein“ gemacht werden.
Einst waren es jüdische Kinder-, Alten-, oder Pflegeheime, oder normale Wohnhäuser. Ab 1939 wurde der Mietschutz von Juden gesetzlich aufgehoben und 2360 Familien wurden in 47 andere Häuser umquartiert – die Ghettos Leipzigs. „Erst viele Jahre später erfuhr ich wo überall in der Stadt sich Judenhäuser befanden“, erinnert sich Isaacsohn. Er habe gewusst, dass er seine Großmutter nie wieder sehen würde, doch welches Ausmaß die Vernichtung der Juden hatte, wusste niemand. Lediglich durch Erzählungen von Soldaten, die auf Heimaturlaub waren, konnte man die Endstationen der „Viehwagons“ erahnen.
Während die Geschwister des Vaters bereits rechtzeitig Deutschland verlassen hatten, um in Amerika zu leben, verpassten Rolf Isaacsohn und seine Eltern die Möglichkeit einer Flucht nach Argentinien: „Uns kam der Krieg dazwischen.“ Zwar wurde der sechsjährige Isaacsohn noch normal in die jüdische Schule eingeschult, doch bald sollten die Schulreihen mächtig ausgedünnt sein. „Anfangs waren wir noch etwa 100 Schüler, doch nach und nach sind immer mehr ausgewandert, oder waren einfach weg“, erinnert er sich. Nach dem „Alef“, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabetes, war Schluss. Die Eltern verloren ihre Anstellungen, der Vater wurde zu Gleisarbeiten bei der LVB zugeteilt. Dann wurden die Lebensmittelmarken eingeschränkt, anstelle Vollmilch bekamen die Juden nur noch Magermilch. Schließlich musste auch die Kleinfamilie zuerst in die Humboldtstraße 4, später in das Judenhaus in der Walter-Blümel-Straße umziehen, was heute die Löhrstraße 10 ist, die heutige Zentrale der Israelitischen Gemeinde Leipzig.
In dem Zimmer, in dem er 77 Jahre später wieder sitzt, erinnert nichts mehr an die marode und dürftige Einrichtung von damals, als hier Menschen, gebrandmarkt durch den gelben Judenstern, eng zusammen lebten. Gefasst erzählt er weiter – den Teil der Geschichte, der auch ihn zu einem Überlebenden der Shoah macht.
Am 15. Februar 1945 müssen schlussendlich auch er und sein Vater einen Deportationszug besteigen, mit dem Ziel Theresienstadt. „Rein äußerlich war es eine normale Kleinstadt, mit einem Theater, einer Kirche und einem Kino. Die Stadt war nur überbevölkert“, erzählt Isaacsohn. Das Lager war das Aushängeschild Hitlers: Immer wieder begutachtete das internationale Rote Kreuz die „Judeneinrichtung“. Hunger sei trotzdem das ständige Thema gewesen. Isaacsohn und sein Vater wurden getrennt. Während der Sohn mit den anderen Kindern zusammen lebte, musste der Vater verschiedene Arbeiten verrichten, unter anderem in der Lagerküche. Drei Monate später, am 8. Mai 1945, wurde auch Theresienstadt von der Roten Armee befreit. Doch das war noch nicht das Ende. Die Gefangenen wurden weiterhin festgehalten, denn ansteckende Krankheiten waren ausgebrochen. Es war die Arbeit des Vaters, die nun zur Flucht verhalf. Ein Passierschein, der ihn befähigte neue Lebensmittel von außerhalb zu besorgen, war das Ticket in die Freiheit. Ein 14- tägiger Fußmarsch bis nach Grimma, dann mit dem Zug gen Heimat.
Die Zeit nach 1945 war von Schweigen geprägt. Rolf Isaacsohn besuchte wieder die Volksschule. Keine habe ihn auf sein Jüdischsein angesprochen, die Zeit wurde totgeschwiegen. Er trat in den Fußballverein ein, erlernte den Beruf des Elektriker: „Ich habe ganz normal wie jeder andere gelebt.“ Jude zu sein hatte er vollständig abgelegt. Isaacsohn wird sich klar: „Kontakt zu Juden in Leipzig habe ich nicht viel gehabt. Man hat sich mal ab und zu in der Stadt getroffen.“ Andere Dinge bestimmten sein Leben. 1967 heiratete Rolf Isaacsohn, im Jahr darauf wurde sein Sohn geboren.
Wie ist es aber möglich in dem Land seiner Peiniger weiter zu leben? Für Rolf Isaacsohn scheint die Antwort klar zu sein: „Es gab nicht bloß Nazis.“ Der 82-jährige ist einer der wenigen, die lernten zwischen den Nationalsozialisten und den „einfachen Deutschen“ zu unterscheiden. Beruft er sich auf seine Erinnerungen, habe Antisemitismus in seiner Kindheit fast keine Rolle gespielt.
Von dem einstigen Stolz und dem Einfluss des jüdischen Volkes in Leipzig war in den Nachkriegsjahren nicht mehr viel übrig. Viele der wenigen Überlebenden waren nach Palästina emigriert, oder in den Westen Deutschlands abgewandert. Es ist unter anderem Eugen Golomb und Aron Adlerstein zu verdanken, dass die Spuren der Juden in Leipzig noch heute bestehen. Als Überlebende von Auschwitz brachten sie die Energie auf, die israelitische Gemeinde wieder auf zubauen. Auch Rolf Isaacsohn engagierte sich seit der Wende wieder in der Gemeinde und war redlich an den Aufbauarbeiten von Synagogen, Friedhöfen und Wohnhäusern beteiligt. „Es war alles in einem furchtbaren Zustand“,erzählt er. Der Einsatz hat sich gelohnt. Heute gehört Leipzig mit etwa 13.000 Mitgliedern zu der führenden jüdischen Gemeinde Sachsens. Seit 2005 besteht eine jüdische Kindergartengruppe, ein Thora Zentrum und auch jüdischer Religionsunterricht wird angeboten. Der Fokus des aktuellen Gemeinderabbiners Zsolt Balla liege nun auf der Zukunft, der Jugend in der Gemeinde.
In der Bauhofstraße 6, im Zentrum Südost Leipzigs erinnert heute ein kleiner gold-schimmernder Pflasterstein an Diana Isaacsohn. 10x10x10 Zentimeter erzählen die Geschichte einer Frau, die aufgrund ihres Glaubens von der Bürgerin zur Verfolgten dieser Stadt wurde. Das Projekt „Stolpersteine“ ist nur eine Möglichkeit nicht die Augen zu verschließen, sich zu erinnern.
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