Nummer 21 möchte Zahnärztin werden
Auf der Insel Samos kommen jeden Tag 1.500 syrische Flüchtlinge an.
Die Flüchtlinge laufen im Gänsemarsch an meinem Marmeladenbrot vorbei. Ihre tropfnassen Schuhe hinterlassen Abdrücke auf dem warmen Asphalt. Einige sehen mit ihren Rollkoffern und den weißen Pullundern aus, als führen sie auf Klassenfahrt, anderen fällt das Laufen schwer. Es ist ein sonniger Spätsommertag auf der griechischen Insel Samos, neun Uhr morgens. Vor einer Stunde sind die Syrer an einem Strand nicht weit vom kleinen Dorf Agios Konstantinos angekommen. 25 Menschen in einem Boot für acht. 1200 Dollar hat jeder von ihnen einem Schlepper im türkischen Izmir bezahlt, vier Stunden waren sie auf dem Meer, gesteuert haben sie das Boot selbst.
Gabi Orfanis, eine Deutsche, die seit 30 Jahren auf Samos wohnt, hat die Flüchtlinge am Strand mit dem Nötigsten empfangen: Wasser, Müsliriegel, Milch für die Babys, Windeln. Seit neuestem bringt sie auch Handtücher und Unterwäsche für die Kinder mit, weil sie nass bis auf die Haut sind. Im Frühjahr sei das noch nicht so gewesen, aber nun würden die Boote immer voller, bis zu 55 Menschen in einem.
Viele der Flüchtlinge haben schon Tage an der türkischen Küste auf die Abfahrt gewartet, oft ist es der vierte oder fünfte Versuch, übers Meer nach Griechenland zu kommen. Mal gehe der Motor kaputt, mal zwängen türkische Schiffe die Boote zur Rückkehr. Viele Flüchtlinge müssten deshalb erst einmal in der Türkei bleiben und arbeiten, um Geld für den nächsten Versuch zu verdienen, sagt Gabi Orfanis. Sie hat ein halbes Dutzend junger Männer auf der Ladefläche ihres Pick-ups sitzen, die sie für die Registrierung zur Hafenpolizei in der nächsten Stadt bringt.
Wir haben auch drei Jungs an der Landstraße aufgesammelt, damit sie die 20 Kilometer nach Karlovasi nicht laufen müssen. Sie sprechen kein Englisch, nur „police“ und „Syria“, und drehen sich immer wieder um. Es beunruhigt sie, dass der Jeep, der hinter uns ihre Freunde mitgenommen hat, noch nicht zu sehen ist. Als er nach einer Abkürzung vor uns auf die Hafenstraße biegt, strahlen sie und winken. Der Dritte schläft völlig erschöpft mit halbgeöffneten Augen.
Vor dem Gebäude der Hafenpolizei müssen sich die Flüchtlinge anstellen und werden fotografiert, später bekommen sie dann eine „White Card“, mit der sie bei der Bank Geld wechseln können. In der Hand halten sie für die Registrierungsfotos eine Tafel mit ihrem Ankunftsort, dem Datum und einer Nummer. Die wird ihnen dann mit Filzstift auf die Hand geschrieben.
Heba ist Nummer 21. In Deutschland, wo alle diese Flüchtlinge hin wollen, möchte sie Zahnärztin werden. Sie ist 18 Jahre alt, trägt ein weißes Kopftuch und eine große lilafarbene Brille. Sie erkundigt sich nach den Studiengebühren in Deutschland und danach, ob die Grenze zu Ungarn wirklich dicht ist. Sie ist mit ihren Eltern und den zwei kleinen Brüdern geflohen, sie wollen zum Onkel nach Saarbrücken. Die Familie kommt aus Daraa, von dort aus ist sie mit dem Taxi nach Damaskus, mit dem Bus nach Beirut und dann mit
dem Flugzeug nach Adana und weiter nach Izmir in der Türkei geflohen. Die weitere Route hat Heba im Kopf: Mit der Fähre nach Athen, dann weiter mit dem Bus. Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich. Dann endlich: Deutschland. Heba erzählt all das auf Englisch, sie ist die einzige in der Gruppe, die Englisch kann. Aber einer der Jungs, die neugierig im Kreis um uns herumsitzen, holt ein arabisch-deutsches Wörterbuch aus der Tasche. „Kuste, Kuste“, liest er vor und zeigt aufs Meer. Ja, genau, Küste, mit ü! Er lacht laut und probiert gleich das nächste Wort. Wer hätte gedacht, dass ihm dieses Meer, in dem in diesem Jahr fast 3.000 Flüchtlinge ertrunken sind, und das er in der Nacht voller Angst überquert hat, noch am gleichen Tag so eine Freude machen würde. Ob es einen Friseur gebe in der Nähe, fragt ein anderer, dann könne ich mal sehen, wie er frisch frisiert aussehe. Sein Freund hält mir das Handy hin, Google Übersetzer: „Flirts auf Arabisch“.
Über diese Scherze scheinen sie zu vergessen, dass einige von ihnen barfuß sind und sie alle todmüde. Dass sie vor Krieg, Armut und einer Zukunft ohne Zukunft geflohen sind. Dass viele von ihnen Freunde und Familie und alle von ihnen ihre Heimat zurückgelassen haben. Von der erzählen sie viel, zeigen Bilder von Zuhause. „Mein Zimmer fehlt mir am meisten“, sagt Heba, „aber jetzt ist es kaputt.“
Die nassen Schuhe stehen in Reih und Glied zum Trocknen in der Sonne, über einem Bauzaun hängen die Hosen. Einige Männer liegen hingestreckt auf den fleckigen, nackten Matratzen in dem kleinen Haus für die Flüchtlinge. Zurzeit kommen jeden Tag etwa 1500 Flüchtlinge auf Samos an. Am Hafen der gleichnamigen Hauptstadt ist das zu spüren. Hier scherzt niemand. Am Vormittag, bevor die Fähre nach Athen geht, die auch die Flüchtlinge von Agios Konstantinos nach einer Nacht von der Insel bringt, warten dort fast 3.000 Menschen. Sie sitzen in der sengenden Hitze auf dem Beton, drängen sich im
Schatten zweier geparkter Lastwagen. Es gibt Zelte, etwa ein Dutzend Container, in denen die Familien untergebracht sind, aber es reicht nicht für alle. Wasser und Essen bekommen die Flüchtlinge nur von freiwilligen Helfern oder Touristen. Vom griechischen Staat gibt es nichts.
Überall hängt nasse Kleidung in der Sonne, immer wieder kommen Polizeiwagen mit Flüchtlingen an. Eine lange Schlange steht bei der Registrierung, eine andere vor dem kleinen Kiosk, der die Fährentickets für Dollar verkauft, und die dritte vor den Sanitäranlagen. Es gibt zwei Toiletten und vier Duschen. Einige junge Männer springen ins Hafenbecken, um sich abzukühlen.
Bis nach Deutschland sind es noch knapp 3.000 Kilometer. Mit dem Flugzeug dauert das mit Zwischenstopp in Athen nur einen Nachmittag. Bis die Flüchtlinge von Samos in Deutschland sind, dauert es noch Tage. Sie schicken mir Fotos von den Tausenden, die im Dämmerlicht darauf warten, an Bord der großen Fähre nach Athen zu gehen, am nächsten Morgen Bilder vom Athener Hafen Piräus, dann vom Grenzübergang nach Mazedonien. Am Schluss immer der für alle tröstende Satz: Wir sehen uns in Deutschland. Sie erzählen mir von der Müdigkeit, vom Frieren, vom Fußmarsch im Regen, vom bangen Warten in überfüllten Zügen, die endlich nach Österreich fahren sollen. Eine Woche später kommt dann endlich ein Foto aus Deutschland: Bayern at its best, sonnig und grün. Allah sei Dank.
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