Persönliche Lebensgeschichten im Fokus der Dokumentationskunst
Ein Nachbericht zum 58. Leipziger DOK-Festival
Nach einer abwechslungsreichen Filmwoche ist das 58. Dokumentarfilm – und Animationsfilmfestival in Leipzig gestern zu Ende gegangen. Nach der feierlichen Eröffnung am vergangenen Montag war das DOK am Dienstag für die Öffentlichkeit geöffnet geworden und bis heute Abend insgesamt 316 Filme aus 62 Ländern gezeigt worden. Neben den Passage Kinos und dem Cinestar in der Innenstadt, gehörten auch die Schaubühne Lindenfels in Plagwitz und die Cinématèque in der Südvorstadt zu den Spielorten der Filme.
Änderungen und Themenschwerpunkte unter Intendantin Pasanen
Die neue Intendantin des DOK, die Finnin Leena Pasanen, die erst zu Beginn des Jahres die Leitung des Festivals übernommen hatte, setzte mit ihren Neuerungen und Änderungen richtungsweisende Akzente für die kommenden Jahre. Unter Pasanens Leitung waren unter anderem erstmals auch reine Animationsfilme zur offiziellen deutschen als auch internationalen Festivalauswahl zugelassen worden.
Eine weitere Neuerung, die von nun an fest im Konzept des DOK verankert sein soll, ist das „DOK Neuland“. Im Fokus dieses neuen Programmformates standen interaktive Dokumentationsstile – und Filme, die die ganze Woche über auf dem Leipziger Marktplatz in zwei Zelten präsentiert wurden.
Unter dem Festivalmotto „Borders and Identities“ (zu Deutsch „Grenzen und Identitäten“) widmeten sich viele DOK Filme in diesem Jahr krisenbehafteten Ländern wie dem Irak, Syrien oder Israel, wo Krieg und Terrorismus die Identität vielen Menschen dort derzeit in Frage stellen. Auch die aktuelle Flüchtlingskrise wurde in diesem Zusammenhang in manchen Filmen thematisiert.
Ein weiterer Fokus lag auf den Ländern Osteuropas. Insbesondere die Filme, die der Reihe „Retrospektive: Grenzen ziehen … Europa seit 1990“ angehörten, zählten in diese Kategorie. Auch war das Motto angelegt an das 25-jährige Jubiläum der deutschen Einheit, dem sich wiederum einige deutsche Dokumentarfilme in verschiedensten Weisen genähert haben.
Im Fokus: Leipzig und Polen
Der DOK-Eröffnungsfilm am Montag stand ganz im Zeichnen dieses Mottos: Mit „Alles andere zeigt die Zeit“ beendete der deutsche Dokumentarfilmemacher Andreas Voigt seinen sechs-teiligen Leipzig Zyklus. Mit dem direkten Stadt Bezug der Filme näherte sich das DOK somit zusätzlich auch der 1000 Jahre Leipzig Thematik an.
Die auch international bekannt gewordene Leipzig Reihe Voigts widmet sich über einen Zeitraum von insgesamt 30 Jahren den Lebensgeschichten und Schicksalen einiger Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind. Zwischen 1987 und 1997 sind „Alfred“, „Leipzig im Herbst“, „Letztes Jahr Titanic“, „Glaube, Liebe, Hoffnung“ und „Große Weite Welt“ entstanden – nun, 18 Jahre später, hat Voigt seinen Zyklus mit „Alles andere zeigt die Zeit“ komplementiert. So wie der Film das Festival eröffnet hatte, beendete er es auch am gestrigen Abend.
Bereits am Samstagabend waren die Festivalpreise, darunter die begehrten goldenen Tauben, vergeben worden. Dabei gewann der polnische Filmemacher Wojciech Staroń in der Kategorie “Internationaler Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm” mit seinem Film „Brothers“ die goldene Taube. Der Preis wird vom Mitteldeutschen Rundfunk gestiftet und ist mit 10.000 Euro dotiert.
„Brothers“ handelt vom Leben zweier Brüder, die nach 70 Jahren aus dem sibirischen Exil nach Polen zurückkehren. Die Erinnerungen und Erzählungen von ihrem gemeinsamen Leben bis hin zum Tod tragen den Film.
In der Begründung für die Auswahl hieß es, dass „Brothers“ „den Zuschauer in seinen Bann zieht und ihn zum Teil des Filmes werden lässt, als ob er zum Bestandteil eines Gemäldes würde und doch gleichzeitig durch künstlerische Mittel an die Geschichte erinnert wird.“ Für diese „außerordentliche Poesie sowie seine großartige cineastische Leistung“ erhielt der polnische Dokumentarfilm eine der rumreichsten Auszeichnungen im Dokumentarfilmbereich.
Ein Geisterdorf mit Charakter
In der gleichen Kategorie im nationalen Wettbewerb ging die goldene Taube an Tom Lemke und seine Dokumentation „Land am Wasser“. Der Film porträtiert das Geisterdorf Grunau bei Hohenmölsen in Sachsen-Anhalt – oder wohl eher seine letzten Bewohner: einen Bauern, einen Schlosser und „den Norbert“. Bis in die 90er Jahre zu der Großgemeinde Grimma gehörend, wurde Grunau Opfer des Braunkohleabbaus. Als Großgrimma 1998 in Hohenmölsen eingemeindet wurde, begannen der Abriss und die Umsiedlung des Dorfes.
Einer, der dennoch blieb, Silvio, ist der Protagonist in Lemkes ausgezeichnetem Film. In charmantem, teilweise vollkommen unverständlichem Sächsisch, erzählt Silvio von seinem Alltag und Leben als Bauer und lässt sich dabei von Lemke filmen: Beim Schlachten, beim Gärtnern, beim Hunde herumscheuchen oder beim Mähdrescher fahren. Tag ein, Tag aus. Jahreszeit um Jahreszeit. Ein benachbarter Schlosser und eben der Norbert sind so ziemlich die einzigen sozialen Kontakte, mit denen Silvio regelmäßig Kontakt pflegt.
Zwischen all den Szenen auf Silvios Hof, mischen sich immer wieder mit ruhiger, wunderbar einfühlsamer Musik unterlegte Momente, in denen die Kamera einfach nur die trostlosen, leerstehenden und heruntergekommenden Bruchbuden des Dorfes einfängt – es wirkt an manchen Stellen so gespenstisch, dass sich einem die Frage stellt, wie dort überhaupt noch jemand leben kann. Mal ganz abgesehen davon, dass der Film im Großen und Ganzen wirkt, als wäre er in den 80er oder 90er Jahren entstanden. „Ich hatte immer das Gefühl, dass die Zeit dort irgendwie stehen geblieben ist“, beschreibt Lemke selbst die Stimmung vor Ort.
Angefangen zu filmen hat Lemke nämlich erst 2003 – damals traf er zum ersten Mal auf Silvio und seine Freunde. Sechs Jahre später kam er zurück und vollendete seine Dokumentation: „Ich hatte immer das Gefühl die ganz große Geschichte muss noch erzählt werden“, erläutert Lemke. Nüchtern, aber nicht politisch, aussagekräftige Bilder und Worte, aber ohne direkt zu kommentieren – das macht Lemkes Dokumentation so besonders.
Die goldene Taube ging deswegen an Lemke, da in seinem Film „Wort und Bild eine so große Überzeugungskraft entwickeln, dass man als Zuschauer in das Leben des Protagonisten einzutreten glaubt“. Und wirklich: Am Ende des Filmes ist man beinahe traurig Silvio und seinen Hof wieder verlassen zu müssen, so lieb ist er einem geworden.
Was noch bleibt: Weitere Preisträger und ein Ausblick auf 2016
In den weiteren Kategorien wurden „TransFatty Lies“, „Overgames“, „The Event“, „Train to Adulhood“ und „Parchim International“ mit goldenen Tauben geehrt. Außerdem wurden insgesamt acht Kurzfilme ausgezeichnet. Mit zusätzlichen Sonderpreisen wurden bei dem diesjährigen DOK Festival zusammengenommen 19 Preise, darunter neun an deutsche Künstler, vergeben.
Mit einem Gesamtwert von 75.500 Euro ist das DOK Leipzig somit auch das hochdotierteste Dokumentarfilmfestival in Deutschland. Die gut ausgewählte und mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten bespikte Filmauswahl lockte in der vergangen Woche über 48.000 Zuschauer in die Kinos.
Im nächsten Jahr wird das DOK vom 31. Oktober bis 6. November stattfinden. Dann hoffentlich erneut mit so vielen charakterstarken, emotionalen und aussagekräftigen Filmen wie in diesem Jahr.
Fotos: Vorstellung Bahnhof – DOK Leipzig, „Brothers“ – Wojciech Staroń, „Land am Wasser“ – Tom Lemke
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