Die ehemalige Pelzstadt Leipzig
Nur eine Kürschnerin ist von der „Weltstraße des Pelzes“ am Brühl geblieben.
Schon im Treppenhaus fallen alte Kacheln an der Wand auf. Eichhörnchen sind darauf zu sehen und Marder. Nach einem kurzen Aufstieg in den zweiten Stock ist es gefunden, das „Pelzatelier Romy K.“. Überall hängen und stapeln sich Tierfelle, Pelzkataloge liegen auf einem gläsernen Tisch. Die Kürschnermeisterin Romy Kästner, Inhaberin des Ateliers, ist sehr stolz auf ihren Arbeitsplatz im Herzen der Stadt.
In den siebziger Jahren lernte sie die Kürschnerei, das Handwerk der Pelzmacher, hier am Leipziger Brühl. Danach arbeitete sie lange Zeit außerhalb der Stadt. Seit vier Jahren ist sie wieder hier. Sie betont, das Pelzatelier nur zufällig genau am Brühl eröffnet zu haben. Doch sie hätte als Kürschnerin keinen geschichtsträchtigeren Ort in Leipzig finden können.
Der Brühl, damals als „Weltstraße des Pelzes“ bekannt, gelangte vor mehr als 100 Jahren als Umschlagplatz für Rauchwaren – also unverarbeitete, gegerbte Tierfelle – zu Weltruhm. Vertreter anderer Branchen kamen hier kaum unter, ausgenommen Gastwirte und Spediteure. Die Anfänge des Rauchwarenhandels und der -bearbeitung reichen bis in die Zeit der Stadtgründung zurück. Sie sind zwei der ältesten Wirtschaftszweige Leipzigs. Bereits ab Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Gast- und Wohnhäuser von den Läden der Pelzhändler und den Werkstätten der Kürschner verdrängt.
Mit Einführung der Gewerbefreiheit in Sachsen um 1860 erlebte der Handel einen enormen Aufschwung, viele ausländische Händler ließen sich in Leipzig nieder. Nach 1880 stiegen die Nachfragen nach Pelzwerk als Statussymbol der Oberschicht. Leipzigs Produktionsstätten rüsteten mit modernster Technik auf. Diese Innovationskraft verhalf den Leipziger Rauchwaren zu ihrer Spitzenposition auf dem Weltmarkt: Um 1913 waren Leipziger Händler mit fast 35 Prozent am Weltpelzhandel beteiligt. Besonders am Brühl reihte sich Geschäft an Geschäft und Lager an Lager. Er war wortwörtlich zu einer „Pelzstraße“ geworden.
Dass die Gegend am Brühl berühmt für ihre Pelzgeschäfte war, wissen inzwischen nur noch wenige. Zu sehen ist davon heute kaum noch etwas. In ganz Leipzig gibt es nur noch drei Pelzgeschäfte. Eines von ihnen ist Romy Kästners Atelier. Die 57-jährige Frau fertigt hier moderne Kleidungsstücke an. Viele Kunden brächten auch alte Pelzstücke zum Umarbeiten, erzählt sie. Staubige Erbstücke etwa, die nach Jahren auf dem Dachboden ein neues Leben erhalten sollen. „Ich verarbeite alles, was anfällt – Lamm, Kanin, Fuchs, Nerz, Kalb oder Zobel“, sagt sie und deutet auf die Fellberge.
Eine kurze Jacke, strahlend weiß und unglaublich weich, hängt hinter der Theke. Diese hat eine junge Frau bestellt, für ihre Hochzeit. Etwa 15 Kaninchenfelle wurden für das Stück verarbeitet und zusammengenäht, die Übergänge sind nicht zu sehen. „Das ist die Kunst des Kürschners“, sagt Romy Kästner. Sie zeigt eine Fuchs-Jacke, die aus winzig kleinen Pelzteilchen zusammengenäht ist, die Teile kaum größer als ein Fingernagel. Es steckt ein enormer Aufwand in einem solchen Mantel.
Jeder einzelne Arbeitsschritt, vom Zurichten der Tiere bis zum Festnähen der Nähte, ist Handarbeit. Eine Woche dauert es, einen Pelzmantel herzustellen. Zuerst müsse das Fell von kahlen Stellen befreit und dann aufgespannt werden, erzählt Kästner. Für jedes einzelne Teil wird ein Schnitt überlegt, Größe und Form der Fellzuschnitte müssen geplant werden, um die Übergänge fließend vernähen zu können. Ist all das getan, werden die Teile zusammen gefügt und gefüttert.
Die Hochphase des Pelzhandels hielt in Leipzig nicht lange an. Mit der ausbleibenden Warenzufuhr aus Amerika während des Ersten Weltkrieges kam das Exportgeschäft zum Erliegen. Auch von der Weltwirtschaftskrise und der „Arisierung“ des NS-Regimes sollte sich die Branche nie wieder erholen. Fast die Hälfte der Händler waren jüdisch und durften nicht weiter ihrer Tätigkeit nachgehen. Der Zweite Weltkrieg brachte die Pelzwirtschaft in Leipzig gänzlich zum Stillstand: Nur wenige Gebäude des Rauchwarenviertels überdauerten Krieg und Bombenterror. Die „Pelzstraße der Welt“ existierte nicht mehr.
Aber wer davon weiß, kann auch jetzt noch bei einem Spaziergang durch die Innenstadt die Überreste dieser Zunft erkennen. Auch wenn das Stadtbild rund um den Brühl heute von Restaurants und Läden geprägt ist, zieren viele Fassaden Abbildungen von erlegten Tieren und Pelzen. Das ist alles, was vom einstmalig „schönsten Pelzviertel Europas“ geblieben ist.
Früher muss die Leipziger Pelzstraße eindrucksvoll gewesen sein, wie alte Fotos zeigen. Die Pelzgeschäfte lagen neben- und übereinander, in der Straße reihten sich die Lastwagen, die mit Fellen beladen wurden. Zeitzeugen beschrieben den Geruch nach Kampfer und den animalisch-süß riechenden Tierfellen. Die Straße war eine Rauchwarenbörse unter freiem Himmel. Neben den Firmenschildern hingen Fellbündel am Tor. Überall standen die Händler in weißen Kitteln auf der Straße, nach Kunden Ausschau haltend.
Wer etwas kaufen wollte, ging zu „seinem“ Händler und gleich aufs Lager. Die riesigen, bis zu vier Etagen hohen Lagerhäuser waren eine ganz andere Welt. Es gab Felle von Mardern, Füchsen, Fischottern oder Dachsen. Zu riesigen Stapeln aufgeschichtet, zu Hunderten von der Decke hängend, gestopft in riesige Eichenfässer. Es galt das „Geschäft auf Treu und Glauben“, Käufe wurden mit Handschlag besiegelt.
Die Kürschner und Rauchwarenhändler genossen ein hohes Ansehen im städtischen Leben. Das ist heute anders. Oft gibt es Kritik wegen der Pelze. Die Kunden fürchten eine nicht artgerechte Haltung. Romy Kästner bezieht da klar Position: ihre Felle sind vom Deutschen Pelzinstitut zertifiziert. „Beschimpfungen oder Bedrohungen hatte ich deshalb noch nie, höchstens Diskussionen mit einigen Kunden. Dabei hätten wir gar kein Interesse an schlechter Tierhaltung, das ergäbe kein schönes Fell.“ Und das ist schließlich die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Geschäft.
Von der Kürschnerei Friedrich Erler, einer der ältesten am Brühl, ist ein Preiskatalog des Jahres 1888 überliefert. Darin wurden 225 Artikel angeboten, unter anderem Schlittendecken, Jagdmuffe, Reitröcke und Kutschermützen. Romy Kästner hat sich mit ihrem Warenangebot jedoch längst der Zeit angepasst. „Ich fertige vor allem Mäntel und Jacken an, ab und zu auch Accessoires dazu. Die Handwerksarbeit hat sich eigentlich seit Jahrzehnten nicht verändert, nur Mode und Farbvielfalt sind anders“, erklärt sie.
Kästner hält einen knallrot eingefärbten Nerzmantel hoch. Nicht jeder könnte sich dieses extravagante Stück leisten. Denn am hohen Preis der Ware hat sich seit damals nicht viel verändert. Bezahlte man früher bis zu 3.000 Mark für einen Breitschwanzmantel, sind es heute 2.000 bis 100.000 Euro, je nach Tierart.
Trotz der Kostspieligkeit sei die Nachfrage in den vergangenen Jahren wieder gestiegen, doch eine „Weltstraße der Pelze“ könne der Brühl wohl nie wieder werden, sagt Kästner. „Die Tradition der Pelzverarbeitung wurde in den letzten Jahren vergessen. Wir Kürschner hätten das Geschäft besser pflegen, es in den Köpfen der Menschen halten sollen.“
Eine Kundin kommt in Kästners Laden. Sie bringt einen langen Chekiang-Mantel aus chinesischen Lammfellen mit, der gekürzt werden soll. Sie ist neugierig und fragt nach, wie viele Tiere wohl in dem dunklen Stück verarbeitet seien. Die Kürschnerin überschlägt im Kopf Länge und Breite der Felle, murmelt Zahlen vor sich hin. „Etwa 30“, sagt sie schließlich. Die Kundin ist beeindruckt.
Ob die Kacheln im Treppenhaus wohl etwas mit dem Pelzgeschäft zu tun haben? Frau Kästner kennt die Geschichte des Gebäudes und bestätigt die Vermutung: „Ganz früher gehörte das Haus einem Pelzhändler.“ Vielleicht war es ja doch kein Zufall, dass sie gerade hier ihr Pelzgeschäft eröffnete.
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