„Sachsen hat ein Demokratiedefizit“
No Legida-Mitbegründer Jürgen Kasek zieht eine Zwischenbilanz.
Seit über einem Jahr existiert die Gruppe Legida in Leipzig. Noch vor der ersten Demo gründete der Leipziger Rechtsanwalt Jürgen Kasek zusammen mit einigen Mitstreitern die Gruppe No Legida. Parallel ist er bei „Leipzig nimmt Platz“ aktiv und vertritt die Grünen als sächsischer Landesvorsitzender. student!-Redakteurin Annina Häfemeier sprach mit ihm über Legida-Anhänger, Demonstrationsfreiheit und die sächsische Demokratie.
student!: Wie sind Sie zu No Legida gekommen?
Kasek: Ende 2014 zeichnete sich ab, dass die Pegida-Bewegung auch nach Leipzig schwappt. Martin Neuhof, ein Leipziger Fotograf, hat daraufhin die Internetseite No Legida gegründet und unter anderen auch Marcel Nowitzki und mich um Unterstützung gebeten. Die meisten Informationsbeiträge kommen von Marcel, Martin macht die Bilder und ich kümmere mich hauptsächlich um die Vernetzung mit anderen Gruppen, insbesondere „Leipzig nimmt Platz“, wo ich auch als juristische Betreuung tätig bin.
student!: Also Netzwerker und Anwalt in einem?
Kasek: Tatsächlich habe ich bei der Sache so etwas wie eine multiple Persönlichkeit. Einerseits bin ich der Draht zwischen No Legida und „Leipzig nimmt Platz“, andererseits habe ich als Landesvorsitzender der Grünen in Sachsen eine Parteibindung und übe nebenbei noch meine Tätigkeit als Rechtsanwalt aus. In dieser Funktion laufen alle Demonstrationsanmeldungen über mich. Außerdem vertrete ich No Legida bei Abmahnungen und Anzeigen, die die Gruppe seitens Legida erhält. Beispielsweise wurden wir wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beleidigung angezeigt.
student!: Vor einem Jahr waren auf Legida-Seite geschätzte 5.000 Anhänger dabei, bei den Gegenveranstaltungen über 30.000. Heute zählt man auf beiden Seiten meist nur noch unter 1.000 Aktivisten. Woher kommt das sinkende Interesse?
Kasek: Die erste Demo am 12.01.2015 war ein singuläres Ereignis. Leipzig hat in der Hinsicht den Vorteil, dass es eine relativ lange Tradition in der Auseinandersetzung mit menschenfeindlichen Einstellungen hat und deshalb auch einen starken Willen, solche Denkweisen zu blockieren. Dazu kam der Vorlauf mit Pegida in Dresden. Da haben viele gesehen, was dort passiert und dass man so etwas nicht ignorieren kann. So entstand der unbedingte Wille, das Ganze in Leipzig zu verhindern.
Das Abnehmen der Teilnehmer halte ich aber für normal. Es strengt unglaublich an, jede Woche auf einer Demo mitzulaufen, wo in ritualisierter Art und Weise immer dasselbe passiert. Bei Bürgerinitiativen ist das ähnlich. Es handelt sich dabei um periodische Ereignisse. Zunächst gibt es den anlassbezogenen Punkt, bei dem die Beteiligung sehr groß ist. Dann passieren zwei Dinge: Entweder man ist erfolgreich und die Menschen hören auf, weil sie jetzt andere Probleme haben, oder man ist nicht erfolgreich, dann lässt die Resignation die Teilnehmerzahlen schrumpfen.
student!: Was raten Sie also den Menschen?
Kasek: Gerade den Leipziger Studenten möchte ich folgendes mit auf den Weg geben: Durch die Verschulung der Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses ist das Engagement von Studenten insbesondere in der Hochschulpolitik relativ gering. Das hat sicherlich mit Zeiteinschränkungen zu tun, was ich ein Stück weit nachvollziehen kann. Den Studenten sollte aber klar sein, dass sie selber mitentscheiden können, in was für einer Stadt sie studieren wollen. Das „hippe“ Leipzig, diese Vielfalt an Kultur, lebt davon, dass Menschen, wie sie bei Legida oder Pegida anzutreffen sind, nicht die Überhand gewinnen. Wenn man weiter in dieser Stadt leben will, wird man sich früher oder später dafür engagieren müssen.
student!: Wie hat sich das Phänomen „Legida“ denn bis jetzt auf das Bild von Leipzig als Stadt ausgewirkt?
Kasek: Leipzig bleibt nach Dresden die zweitgrößte Bewegung und außerhalb Sachsens hat die Gruppe nirgendwo Fuß gefasst. Damit hat auch die Wahrnehmung von Leipzig, sowie Sachsen insgesamt, deutschlandweit gelitten. Hinzu kommt das hohe Polizeiaufgebot einmal in der Woche. Selbst wenn man nicht weiß, dass es eine Versammlung gibt, fühlt man sich dadurch verunsichert.
student!: In Bezug auf Sachsen haben Sie auf der Internetseite der Grünen erklärt, dass „das Modell der ,sächsischen Demokratie‘ in ihrer autoritären Ausprägung gescheitert ist.“ Inwiefern?
Kasek: In Sachsen haben wir eine Staatspartei, die CDU. Diese Partei hat all die Jahre kommuniziert: „Liebe Bürger, ihr müsst euch nicht kümmern. Es reicht, wenn ihr uns alle vier beziehungsweise fünf Jahre die Stimme gebt, den Rest machen wir.“ Das hat zu einer weit verbreiteten Unmündigkeit in der Bevölkerung geführt. Dazu kommt diese überhebliche Vorstellung, dass Sachsen gegen Nazis immun sei, so wie es „König Kurt I“ Biedenkopf (Kurt Biedenkopf, CDU, 1990 bis 2002 Ministerpräsident Sachsens, Anm. d. Red.) in den 1990ern behauptet hat. Nach dem Motto, das geht uns alles nichts an.
student!: Ist dieses „Modell der sächsischen Demokratie“ ihrer Meinung nach ein Grund für den Zulauf, den Gruppen wie Legida und Pegida in Sachsen haben?
Kasek: Heute haben wir einen Zustand, in dem viele Menschen mehr Teilhabe begehren. Sie haben aber keine Ahnung, wie ein Staat funktioniert, was Wahlen sind und wie man sich selbst in einer Demokratie einbringen kann, weil das gar nicht gewollt ist. Die CDU hatte nie ein Interesse daran. Aber all das – mangelhafte politische Bildung, mangelhaftes Demokratieverständnis, fehlende Teilhabe – das rächt sich jetzt. Der Eindruck der Menschen ist, dass sie zutiefst manipuliert werden. Das Erleben der Demokratie als etwas Positives, in dem man selbst etwas verändern kann, wenn man sich beteiligt, hat es in großen Teilen der Bevölkerung einfach nicht gegeben. Deswegen sage ich an dieser Stelle, wir haben ein Demokratiedefizit in Sachsen. In keinem anderen der neuen Bundesländer gibt es ausschließlich eine Staatspartei, die den Deutungsrahmen dafür vorgibt.
student!: Wie können die anderen Parteien diesem Problem entgegenwirken?
Kasek: Die Opposition hat dieses Spiel der CDU schon viel zu lange mitgespielt. Grund dafür ist die Angst vor der Mitte. Die wird eher der CDU zugeschrieben, sodass die Strategie der Linken und Grünen war, sich an die Position der CDU anzupassen. Was Sachsen braucht, ist eine lebendige parlamentarische Demokratie mit einer lebendigen Diskussion und einem wirklichen politischen Streit. Wenn Parteien gleichförmig werden, wenden sich die Menschen ab und das sind die Zentrifugalkräfte, die wir gerade erleben – auch bundesweit.
student!: Noch einmal zu Legida. Auch am 9. November, dem Gedenktag der Reichspogromnacht, gab es einen Aufmarsch der Gruppe, was viele als Provokation empfanden. Inwieweit ist die Demonstrationsfreiheit in solch einem Fall gerechtfertigt?
Kasek: Das Versammlungsrecht ist ein Grundrecht und dieses ist zu schützen. Zwar ist der 9. November ein historisches Datum. Aber eine Demokratie muss es aushalten, dass auch an diesem Tag eine Meinung geäußert werden darf, die anders gerichtet ist. Wenn die Menschen ein Problem mit einem Legida-Aufmarsch an diesem Tag haben, sollten sie diesen Widerspruch auch deutlich machen. Eine Demokratie lebt von Beteiligung an Veranstaltungen, Versammlungen, Diskussionen. Das Verbot hingegen kann nur dann ausgesprochen werden, wenn man keine andere Lösung sieht und das ist somit eine Kapitulation.
student!: Nicht nur das Versammlungsrecht ist ein Grundrecht, sondern auch das Recht auf Handlungsfreiheit. Durch die wöchentlichen Demonstrationen, die den Innenstadtring blockieren, werden Unbeteiligte in ihrer Freiheit aber eingeschränkt.
Kasek: Grundsätzlich gilt auch hier, dass das Versammlungsrecht Vorrang hat. Wenn die Versammlungen aber jede Woche stattfinden, mit derselben Forderung und immer am selben Ort, dann sind die daraus entstehenden Einschränkungen nicht gerechtfertigt. Über diese Entscheidung kann man aber auch juristisch lange diskutieren.
student!: Wie schätzen Sie die Zukunft von Legida ein?
Kasek: Nach einem Jahr lässt sich sagen, dass Legida in Leipzig nicht anschlussfähig ist, das heißt, sie kommt an keine größeren Gesellschaftsschichten heran. Anders als in Dresden besteht Legida zu einem Großteil aus Hooligans und Neonazis, die mit Demokratie und den Werten und Normen des Abendlandes große Probleme haben. Konstruktive Elemente wie eine Parteigründung sind inzwischen verschwunden. Für viele ist es einfach die Sehnsucht nach einer Massenidentität. Sie wollen ihre Einsamkeit verlassen und im größeren Zusammenhang aufgehen – ein Erlebnis wie im Fußballstadion, wenn man im Fanclub steht. Durch die Flüchtlingswelle hatte sich der Zulauf zu Legida kurzfristig gesteigert, aber mittlerweile stellt man sich die Frage: Was soll noch kommen? Womit wollen sie sich halten? Wenn nichts Neues kommt, bin ich deshalb vorsichtig optimistisch, dass es kein zweites Jahr geben wird.
Fotos: Elisabeth Platzer und Facundo S. Conrad
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