Schwarztee mit Zucker
Reise durch die Türkei in politisch turbulenten Zeiten
Pass auf dich auf“ sagen mir meine Eltern und Freunde bevor ich in die Türkei fliege. Ich nicke und denke gleichzeitig darüber nach, wie wenig hilfreich ein solcher Ratschlag im Ernstfall ist. Nur vier Tage vor Reisebeginn, am 13. März, gab es in Ankara den letzten Anschlag. Ein weiteres Attentat sollte während meines Türkeiaufenthalts in Istanbul folgen. Während des Fluges und auch beim Gang über den Basar der Millionenstadt Izmir fühle ich mich unwohl. Ich versuche große Menschenansammlungen zu meiden. Zur Beruhigung sage ich mir immer wieder, dass es wahrscheinlicher ist, in Deutschland bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen als bei einem Terroranschlag in der Türkei. Aber meiner Angst ist durch rationale Argumente nicht beizukommen. Ich entfliehe der Großstadt und wähle als nächstes Reiseziel ein kleines Dorf am Rande des Dilek Nationalparks, einige Autostunden von Izmir entfernt. Als ich den ersten Blick auf Doğanbey erhasche, eine Ansammlung von etwa 50 hellen Steinhäusern, die sich malerisch an einen Hang schmiegen, sind Gedanken an Gewalt und Terrorismus wie weggewischt. Ich verliebe mich auf den ersten Blick in dieses Fleckchen Erde, so kitschig das auch klingen mag.
Doğanbey war früher ein griechisches Dorf, doch nach einem Bevölkerungsaustausch 1923 zwischen Griechenland und der damals neu gegründeten Türkei standen die Häuser viele Jahre lang leer. Auch heute noch ist nur ungefähr die Hälfte der Häuser ausgebaut und bewohnbar. Die Natur hat sich die übrigen Häuserruinen mit einem Heer aus Margeriten und Feigenbäumen zurückerobert, die schon kleine grüne Früchte tragen. Die verzogenen Fenster geben den Blick zu beiden Seiten in den Himmel und die Natur frei. Es riecht nach blühenden Orangenbäumen und das Meer leuchtet strahlend blau. Außer dem Singen der Vögel ist nichts zu hören.
Europa ist nur wenige Kilometer entfernt
Die griechischen Inseln der Ägäis sind von diesem paradiesischen Ort nicht weit entfernt. Ich bringe die Militärsperre am Ende der Straße des Nationalparks mit den Schwimmwesten in Zusammenhang, die in Izmir zahlreich auf dem Basar verkauft wurden. Mir wird klar, was die Nähe zu Griechenland heute – neben Überresten von alten hellenistischen Tempeln – bedeutet: Europa ist nur wenige Kilometer entfernt. Die Distanz zwischen dem äußersten Zipfel des Nationalparks und der griechischen Insel Samos ist so gering, dass sie im Sommer, wenn das Wasser wärmer ist, vermutlich schwimmend überwunden werden kann.
Vom Meer aus fahre ich weiter in das Latmosgebirge. In diesem für mich bisher unbekannten Gebirgszug im Westen der Türkei kommt es mir so vor, als sei ich im japanischen Bonsai-Garten eines Riesen gelandet. Abgerundete Felsbrocken harmonieren mit großen Schirmpinien. Diese Pinienbäume bilden die Lebensgrundlage der hiesigen Bevölkerung. Ich bin gerade zur Erntezeit hier unterwegs und kann beobachten, wie die Menschen in die Kronen der Bäume klettern und mit langen Stangen die Pinienzapfen herunterschlagen. Anschließend werden die kostbaren Kerne weiterverarbeitet und verkauft.
Keine Schule in der Nähe
Ich übernachte in einem abgelegenen 150-Seelendorf bei einem Ehepaar. Das Essen und den obligatorischen Schwarztee mit Zucker nehmen wir gemeinsam auf dem Boden sitzend ein. Vor mir wird eine große Metallplatte mit einer Vielzahl von Schüsseln aufgetischt. Es gibt in Weinblätter eingerollten Reis, gegrillte Peperoni in Joghurtsoße und dazu das frisch zubereitete Brot „Bazlama“. Die Kinder dieses Dorfes wohnen alle in den umliegenden Städten, da es keine weiterführende Schule, geschweige denn eine Universität in der Nähe gibt. Leider sind meine Möglichkeiten der Verständigung sehr eingeschränkt, doch ich habe Glück und eine Frau, die aus Deutschland kommt und schon zehn Jahre hier in der Türkei lebt, übersetzt Teile des Gesprächs. Ohne ihre Hilfe wäre ich aufgeschmissen. Ich habe zwar versucht mir einen kleinen Wortschatz auf Türkisch anzueignen, doch ich beherrsche nur einige Höflichkeitsfloskeln und kann gerade so ausdrücken, was ich möchte: Tee, Essen, schlafen.
Zauberhafte Landschaft
Am folgenden Tag mache ich eine Wanderung durch die zauberhafte Landschaft. Mein Gastgeber geht vorneweg. Er raucht ununterbrochen, trägt dünne Gummischlappen und dennoch muss ich mich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Unterwegs machen wir Halt bei einem Ziegenhirten, der noch mindestens eine gute Stunde Fußmarsch von dem kleinen Dorf entfernt in einem winzigen Unterschlupf wohnt. Ich darf den salzigen Käse probieren, den der junge Mann direkt aus der frischen Milch seiner Ziegenherde herstellt.
Mit den Bildern, die zu dieser Zeit im deutschen Fernsehen gezeigt werden, hat der Teil der Türkei, den ich auf diesem Abschnitt der Reise kennenlerne, wenig zu tun. Terrorismus gibt es hier mitten in den Bergen auch nur in der Flimmerkiste. Dennoch sind alle – ich eingeschlossen – erleichtert, als ich unversehrt nach Deutschland zurückkomme.
Fotos: Myriel Hermann
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