Leipzig und die Landwirtschaft
Der zweite Tag auf dem DOK-Festival
Mit einer inzwischen 59. Auflage sollte man meinen, das Dokumentations- und Kurzfilmfestival Leipzig (Kurz: DOK) hat als kurz vor dem Rentenalter stehendes Filmfestival so langsam seinen Reiz verloren. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Jedes Jahr scheint es mehr Menschen in die verschiedenen Veranstaltungsorte zu ziehen und rund 2.900 offiziell zum Wettbewerb eingereichte Filme sprechen eine deutliche Sprache für die Beliebtheit der Veranstaltung. Knapp 300 dieser Einreichungen werden auf dem Festival gezeigt.
Für mich gab es am Mittwoch insgesamt sieben dieser Filme zu sehen, drei davon animierte Kurzfilme. Nachdem ich es am Montag gleich wieder aufgegeben habe meine Presseakkreditierung zu besorgen – die Warteschlange reichte einmal quer durch das Festivalzentrum im Museum der bildenden Künste – konnte ich am Dienstag morgen noch an meinen Pressepass und damit an die Eintrittskarten zu den einzelnen Filmen gelangen. Im Nachhinein betrachtet habe ich meine Filme des Tages unter zwei verschiedenen Hauptthemen ausgesucht: Die Dokumentationen „Sehnsucht nach dem Meer“ und „Neo Rauch“ kann man einem deutlichen Leipzigbezug zuordnen, „Cabbage, Potatoes and other Demons“ sowie „The Chocolate Case“ lassen sich eher in die Kategorie Landwirtschaft einordnen.
Der erste Filmblock beginnt um 10 Uhr morgens mit den Filmen „Beyond“ (Ungarn, 10 Minuten) und „Cabbage, Potatoes and other Demons“ (Rumänien, 62 Minuten). Der Kurzfilm zeigt in einer modelleisenbahnplattenartigen Animationsweise fünf Personen in fünf eigentlich ganz alltäglichen Situationen – Campen, Kochen, Sport am Strand – die dann aber irgendwie verdreht und absurd werden. Der darauffolgende Dokumentationsfilm kommt zwar aus der gleichen Ecke Europas, hat aber einen gänzlich anderen Ansatz als der ziemlich schräge Animationsfilm. „Cabbage, Potatoes and other Demons“ zeigt die harte Realität der Bauern in dem kleinen Ort Lunguleţu im Süden Rumäniens. Im Februar kaufen sie Kartoffelkeimlinge und setzen diese in die Felder. Nach der Ernte im Sommer verkaufen sie die Kartoffeln um davon Kohlpflanzen zu kaufen. Die Pflanzen ernten und verkaufen sie, um davon Kartoffelkeimlinge für das nächste Frühjahr zu kaufen und so geht es immer weiter. Und dabei macht fast jeder dieser Bauern Verluste. Das eigentliche Problem dabei ist, dass es in dem kleinen Ort nicht nur ein paar, sondern 4000 Bauern gibt, die alle Kartoffeln und Kohl anbauen. Im Selbstversuch bestellt Șerban Georgescu, der gleichzeitig Regisseur und Protagonist der Dokumentation ist, ein Jahr lang einen Hektar Land in Lunguleţu. Seine Bilanz am Ende dürfte für viele Menschen erschreckend sein. Im Gespräch nach dem Film beantwortet der Regisseur die sich während des Films stark aufdrängende Frage, warum nicht ein paar Bauern einfach etwas anderes anbauen. Zum einen, meint er, steckten die Bauern auch noch 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zwischen Vergangenheit und Zukunft fest. Sie könnten es nicht fertigbringen, wie zu Zeiten der Landenteignung alle zusammenzuarbeiten, was zumindest schon einmal einige der knapp 1000 Traktoren im Dorf einsparen könnte. Außerdem habe bereits der Vater und Großvater all dieser Bauern Kartoffeln und Kohl angebaut. Und ein letzter, ganz praktischer Grund sei, dass wenn einer der Bauern anfangen würde, Gurken anzubauen und das liefe gut, würden in zwei Jahren alle Gurken anbauen. Damit wäre das Problem mit einer anderen Feldfrucht wieder da. Ein äußerst sehenswerter Film über ein eindeutig gescheitertes Kapitalistisches System, dem mit Sicherheit auch die nächste Generation Kartoffel- und Kohlbauern noch nicht entkommen können wird.
Nächster Termin: 5.11., 10 Uhr, Passage Kino
Nach einer Mittagspause geht es um 14 Uhr weiter mit den beiden Filmen „Der Schatten der Apparate“ (Deutschland, 15 Minuten) und „Die Sehnsucht nach dem Meer“ (Deutschland, 43 Minuten). Die Idee für den Kurzfilm sei laut Regisseurin Katharina Wittmann ganz zufällig entstanden, als sie die spätere Protagonistin und Mitregisseurin Ursula Breuer bei der Verabschiedung von der alten Leipziger St. Trinitatis Kirche traf und die beiden über ihre Kameras ins Gespräch kamen. In dem Film erzählt Frau Breuer, wie sie 1950 aus Schlesien nach Leipzig kam, wie das Leben in Leipzig für sie ist und welche Bedeutung die Reisen mit ihrem kleinen Fotoapparat für sie haben. Die Besonderheit des knapp viertelstündigen Filmes sind die langen Bildpassagen, welche Orte und Gegenstände der Gespräche zeigen. Die aufgenommenen wie aufnehmenden Personen (also Wittmann und Breuer) dagegen können lediglich als Stimmen aus dem Off direkt neben dem Geschehen wahrgenommen werden. Der Film ist in all seiner Kürze ein berührendes kleines Portrait über eine Frau, der es wie vielen anderen ihrer Generation erging, die aber trotz Erfahrungen mit Krieg und Vertreibung das Beste aus ihrem Leben gemacht hat.
Die langen Bildpassagen des ersten Filmes finden sich auch in der „Sehnsucht nach dem Meer“, ein nach Aussagen von Regisseurin Ute Puder „poetischer Film“. Der beschäftigt sich mit dem vor über hundert Jahren begonnenen Versuch, Leipzig über den Lindenauer Hafen mit der Nordsee zu verbinden. Der Dokumentarfilm starrt – realistisch betrachtet – in vielen Passagen sehr lange einfach nur marode Betonklotz-Ruinen und das Gewässer des Karl-Heine-Kanals an, das Ganze mit einer Melodie unterlegt. Nebenbei erfährt der Zuschauer dann aber auch viel interessantes über Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Lindenauer Hafens. Historisch wird über die Entstehung der Idee der Verbindung zum Meer gesprochen, über die Geschichte der Baumwollspinnerei und darüber, warum der Karl-Heine-Kanal eigentlich so einen unsinnigen Verlauf hat. In der Gegenwartsperspektive werden Menschen befragt, wie sie den Ort Lindenauer Hafen empfinden und was er für sie persönlich bedeutet. Die Zukunftsperspektiven und Pläne um den Lindenauer Hafen schließlich sind so unterschiedlich, vor allem auch aus Sicht von Verantwortlichen der Stadt, dass sich keinesfalls mehrere davon in die Tat umsetzen lassen. Was auf lange Sicht mit dem Areal im Westen Leipzigs geschieht, wird die Zeit zeigen müssen. Einen zweiten Teil ihrer Dokumentation schließen die Filmemacher aber vorläufig aus.
Nächster Termin: 6.11., 19:30 Uhr, Schaubühne Lindenfels
Wiederum nach einer Kaffeepause wird es um 17 Uhr Zeit für eine Weltpremiere: „Neo Rauch – Gefährten und Begleiter“ (Deutschland, 100 Minuten). Nach „Akt“ im letzten Jahr wird damit auch zum aktuellen DOK wieder die Leipziger Kunstszene thematisiert, dieses Mal mit der Konzentration auf einen Künstler, nicht das gemalte „Objekt“ menschlicher Körper. Der Titel des Films ist vielleicht im erstem Moment ein wenig irreführend, denn es geht nicht etwa um Zeitgenossen Neo Rauchs. Vielmehr ist der Künstler und seine Werke der absolute Mittelpunkt des Dokumentarfilms. Das Künstlerportrait zeigt mit Neo Rauch einen Mann, der neben der essentiellen Liebe zu seiner Kunst auch in tiefer Verbundenheit mit seiner Frau Rosa Loy und Mopshündin Smylla steht, genauso wie mit seiner Geburtsstadt Leipzig. Die Werke Rauchs sind nicht nur durch ihre gewaltigen Ausmaße ihrer Leinwände geprägt, die schon als Markenzeichen des Künstlers gesehen werden können. Vor allem sind es die Motive, die seine Bilder besonders machen: im Mittelpunkt stehen fast immer Gruppen von menschlichen oder menschenähnlichen Figuren, die zwar zusammen, dabei aber jede für sich sind. Die Sammler und Verehrer von Rauchs Kunst, die im Film zu Wort kommen bezeichnen diese Figuren als „Schlafwandler“ oder „Schauspieler“. In der Surrealität der Abbildungen kann jeder etwas anderes entdecken und verstehen.
Das Privatleben Rauchs wird zum größten Teil ausgespart, die Konzentration liegt auf seiner Arbeit, seinem Kunstverständnis, den Menschen die seine Bilder kaufen. Als zum Ende des Filmes doch noch vorsichtig die Sprache auf den Unfalltod von Rauchs Eltern kommt, kann man nicht anders als Mitgefühl zu empfinden. Die beiden starben bei einem Zugunglück, als Neo erst wenige Wochen alt war. Sein Vater zeichnete – mit großem Talent, wie aus seinen hinterlassenen Zeichnungen deutlich wird. Die Mutter – eine Schönheit und Muse des Vaters – wurde nur 19 Jahre alt. Auch wenn die Tragödie so lange in der Vergangenheit liegt, hat sie zweifelsfrei das Leben des Künstlers nachhaltig geprägt. Sicher sind so auch einige seiner Werke ein wenig besser zu verstehen. Doch Neo Rauch fasst es selbst ganz treffend zusammen: Wer weiß, welche Art von Mann, welche Art von Künstler er heute wäre, wenn sein Leben anders verlaufen wäre. Möglicherweise wäre er kein Millionenschwer gehandelter Künstler, dessen Werke in den Designer-Esszimmern in New York, Korea und Italien hängen.
Für Fans des Malers ist der Film auf jeden Fall ein Muss. Doch auch für Menschen die Rauch kaum bis gar nicht kennen, ermöglicht der Film einen intimen Einblick in das Leben eines Künstlers, wie es bisher nur selten geschehen sein dürfte.
Nächste Termine: 3.11., 17 Uhr, JSA Regis-Breitingen, 05.11., 19:30 Uhr, Schaubühne Lindenfels, 6.11., 13:30 Uhr, CineStar 6
Den Abschluss des DOK-Tages bilden um 20 Uhr die beiden Filme „Yellow“ (Spanien, 4 Minuten) und „The Chocolate Case“ (Niederlande, 90 Minuten). Der vierminütige Kurzfilm erzählt in schwarz-weiß-gelben Bildern die Geschichte der Banane in Europa und kommt zu dem Schluss, dass die Banane vermutlich demnächst ausstirbt.
Deutlich eindrücklicher wird jedoch der Fall der Kindersklaverei in der Schokoladenherstellung erzählt. Das ganze hatte mit einem Scherz begonnen. Journalisten eines niederländischen Fernsehsenders riefen vor laufender Kamera bei Firmen an, bei denen sie eindeutige Marketingfehler auf Produktverpackungen gefunden hatten und wiesen die Hersteller auf diese Fehler hin. Als sie im Jahr 2002 jedoch darauf stießen, dass für Schokoladenherstellung Kinderarbeit betrieben wird, reichte der einfache Anruf bei Nestlé und Co. nicht mehr aus, zumal keine der Firmen die beschuldigte Tatsache bestritt. So zeigte sich der Journalist Teun van de Keuken medienwirksam selbst an, mit dem Verzehr von Schokolade Kinderarbeit unterstützt zu haben. Außerdem wollten die Journalisten beweisen, dass es möglich ist, sklavenfreie Schokolade zu kaufen. Der Versuch, sklavenfreie Kakaobohnen für Schokolade zu finden, mündete schließlich in der Gründung ihrer eigenen Schokoladenfirma – Tony’s Chocolonely. Doch auch die von ihnen verwendeten Fair Trade Bohnen konnten nicht halten, was sie versprachen. Also mussten die Journalisten einmal mehr die Sache selbst in die Hand nehmen.
Der unterhaltsam gemachte Film besticht durch zwei Dinge: erstens ist er tatsächlich richtig witzig; zweitens macht er auf ein gewaltiges Problem aufmerksam, dessen Lösung die Journalisten in beinahe 14 Jahren kaum einen Schritt näher kommen konnte. Zum dringenden Nachdenken anregen haben sie mit diesem Film jedoch in jedem Fall schon einmal geschafft.
Nächster Termin: 06.11., 12:30 Uhr, Passage Kinos Wintergarten
Der erste Tag auf dem DOK-Festival
Bilder: Weltkino Filmverleih, Fortissimo
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