Bertha und ich durch Europa
Gastartikel: Von Leipzig nach Pavia - mit dem Fahrrad
Ich liege in einer Hängematte am Cospudener See und versuche Abschied zu nehmen. Es ist ein Jahr her seit ich in Leipzig angekommen bin, um als Erasmus-Student Medizin zu studieren. Normalerweise studiere und lebe ich in Pavia, im Norden Italiens, zwanzig Zugminuten von Mailand entfernt. Ich habe Angst, ins Flugzeug zu steigen und von einem Augenblick zum nächsten zurück in meinem italienischen Alltag zu sein. Ich will nicht in das Post-Erasmus-Loch fallen. Außerdem möchte ich mein Fahrrad nicht in Deutschland zurücklassen. Und so baumele ich in der Hängematte und mir kommt diese Idee: Warum nicht einfach nach Hause radeln? Gesagt, getan.
1.300 Kilometer
Ich werde ungefähr 1300 Kilometer zurücklegen. Deutschland, Tschechien, Österreich, die Schweiz, Italien. Fünf europäische Länder. Das kann nur im Sinne des Erasmus-Projektes der Europäischen Union sein. Ich habe so eine Tour vorher noch nie gemacht. Über die sportliche Herausforderung mache ich mir keine Gedanken. Es geht mir um das Abenteuer. Und darum, zu beweisen, wie sorglos und spontan Abenteuer möglich sind.
Ich spare mir jegliche Vorbereitung und fahre mit dem los, was ich in Leipzig zur Hand habe. Am wichtigsten natürlich: Die dicke Bertha, für Freunde auch kurz Bertha, mein rostiges zwanzig Euro teures Damenrad mit launiger Dreigangschaltung und Rücktritt. Mit Bertha bin ich ein Jahr lang zur Uni geradelt. Dazu eine minimale Camping-Ausrüstung, ein paar Ersatzschläuche, Kleidung und Verpflegung. Einzige Anschaffung: Ich tue meiner Mutter einen Gefallen und kaufe einen Fahrradhelm.
Am 1. September geht es pünktlich um 6 Uhr morgens los. Ich radle von Leipzig die Pleiße entlang Richtung Süden durch Altenburg und dann zur Talsperre Pöhl, von dort kürze ich ein Stück durch Tschechien ab und fahre anschließend in bayrischen Gefilden der Naab und Donau folgend nach Regensburg und Rosenheim. In Rosenheim gönne ich mir einen Tag Pause bevor es wieder aufs Rad geht und ich den Inn entlang über Kufstein und Innsbruck fahre.
Jeden Abend schlage ich mein Zelt auf und schlafe irgendwo im nirgendwo. Die Kälte weckt mich morgens auf. Ich schäle mich widerwillig aus meinem Schlafsack und öffne das Zelt. Es ist 6.17 Uhr und im Morgengrauen starrt mich dieser riesige Fels vor mir an. Ich habe mir fest vorgenommen, den heute zu überwinden. Aus meinem Rucksack befördere ich der Reihe nach vier Brötchen, Schinken, Salami und Käse ans Tageslicht. Zusammen mit der präventiven Anti-Krampf-Banane und zwei Müsliriegeln bildet dies mein „colazione dei campioni“ – Frühstück für Helden. Knapp zwanzig Minuten später rollen Bertha und ich langsam los.
Skrupellose Werbetexte
Ich befinde mich nun auf einem Feldweg kurz außerhalb der österreichischen Ortschaft Pfunds auf 1.000 Metern Höhe und folge den Pfeilen in Richtung Reschenpass. Alle paar Kilometer versuchen mir riesige Banner einzureden, dies sei die „leichteste Alpenüberquerung“, während mir der Schweiß runterläuft und ich mir sicher bin, dass sich hier ein skrupelloser Werbetexter einen üblen Scherz erlaubt hat.
„Quäl dich, du Sau“
Über die nächsten zehn Kilometer gilt es 500 Höhenmeter zu bewältigen. Ich atme zweimal tief durch und mir schießen ein paar Tour-de-France-Weisheiten durch den Kopf: „Am Berg musst du stark sein“, oder „Quäl dich, du Sau“. Zunächst scheint die Steigung machbar, allerdings bin ich längst im ersten Gang und das Ende der Steigung noch fern. Die Zeit bleibt förmlich stehen. Ich trete und trete und trete.
Ich will nicht schieben. Nicht heute und vor allem nicht hier. Zwei Rentner überholen mich auf ihren E-Bikes und grüßen freundlich. Ich grüße zurück und verfluche sie leise. Schließlich entscheide ich mich, Zick-Zack in den Serpentinen zu fahren um die Steigung zu verringern. Das ist nicht ohne Risiko, entgegenkommende Motorradfahrer hupen mir böse zu, doch es funktioniert.
Heute ist mein Wille stärker als jegliche Vernunft. Ich habs tatsächlich geschafft! Sofort steige ich ab und mich überkommt die Euphorie. „Numero uno!“ rufe ich den Berg hinunter und bin in diesem Moment mächtig stolz. Plötzlich weht ein leichter Wind und mir wird bewusst, dass ich klatschnass bin. Ich ziehe mich aus und hänge meine Kleider zum Trocknen über eine Bank am Wegrand. Dann liege ich in Boxershorts in der Sonne und genieße den Moment voller Glück und Zufriedenheit.
Ab dann geht es im Etschtal bergab über Meran und Bozen nach Verona. Hier merke ich, dass ich schon fast zu schnell am Ziel bin und ändere meine Pläne kurzfristig. Ich habe große Sehnsucht nach dem Meer und verlängere meinen Trip über Ferrara bis nach Ravenna an die adriatische See. Ich lasse Bertha am Strand liegen und springe in die Wellen. Nach knapp 1.300 Kilometern bin ich am 12. September am Ziel. 12 Tage liegen hinter mir – 12 Tage voller Begegnungen, die ich nicht vergessen werde.
Da ist Mathias, der eine Fahrradwerkstatt in Leipzig-Lindenau betreibt und mir meinen kaputten Gepäckträger zusammenschweißte. Kostenfrei, weil er es lustig fand, wie ich Deutsch spreche und weil er mich für einen amerikanischen Spion hielt. Der Gepäckträger brach nach 600 Kilometern wieder, aber das muss Mathias nicht wissen.
Da ist der Leipziger Straßenbahnfahrer mit Herz, der eine Sonderfahrt einlegte und mich in der leeren Bahn zurück nach Hause fuhr, als Bertha auf der letzten Testfahrt zum Kulkwitzer See plötzlich einen platten Reifen hatte.
Olaf, Stefano und Co.
Da ist Olaf, der mich auf einer Landstraße überholte und mit mir zu seinem Lieblings-Bioladen radelte, wo er mich auf einen Snack und eine Limonade eingeladen hat.
Da ist das sportliche Ehepaar, das mir anbot, die nächsten Stunden in ihrem Windschatten zu fahren, als ich drohte an den Steigungen des Erzgebirges zu verzweifeln.
Da ist der alte tattrige Herr im Traininingsanzug, der auf seinem Rasentraktor zum Supermarkt gefahren ist. Ich lerne ihn nicht kennen, aber seine Aktion erheiterte meinen Tag.
Da ist dieser Mann in Regensburg, der mich zu Currywurst und Weizenbier einlud. Einfach nur, weil es ihn gefreut hat, von meiner Radtour zu hören.
Da ist Enrico, der mich zu sich nach Hause nahm und mich zu einer Wanderung durch die Dolomiten führte – inklusive Kaiserschmarrn auf dem Gipfel.
Da ist Fischer Stefano, der im Dunkeln Bertha und mich in seinem Minivan mitnahm. Währenddessen erzählte er mir überzeugt von Chemtrails und anderen Verschwörungstheorien, was mich daran erinnert, dass ich jemandem dankbar sein kann, ohne seine Meinung teilen zu müssen.
Bertha und ich haben es geschafft, komplett unvorbereitet, komplett spontan. Und jetzt sitze ich in Italien, schwelge in Erinnerungen und warte, dass Leipziger Studenten per Rad in ihr Erasmus-Jahr an der Università di Pavia starten.
Vi aspettiamo!
Ein Gastartikel von
Stefan Kolling
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