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  • „Geh in die Fotze deiner Mutter, Europa!“

    Tagebuch zur Buchmesse (3) – Samstag, 25. März

    „Du setzt deine Tochter auf den Stuhl und lässt sie nachsprechen: sprich mir nach! […] Mein Land ist das beste Land der Welt, mein Land ist das größte Land der Welt, mein Land ist das schönste Land der Welt, mein Land ist das landeste Land der Welt.“
    Ich befinde mich bei einer Lesung von Nicoleta Esinencu. Es sind nur drei Zuhörende gekommen. Eine davon bin ich. Nicoleta, international renommierte  Autorin aus Moldawien, spielt an den Schnürsenkeln ihrer Sneakers herum, aus denen rosa Socken herausgucken. Der Text, der vorgetragen wird, ist aus dem Stück „A (II) RH +“. Nachdem ich eine halbe Stunde lang zugehört habe und ein Muster in dem gedankenflussartigem Text erkenne, sehe ich, wovon er handelt: Es geht um einen ganz normalen Menschen. Einen Menschen, der ein Kind hat und in einem Blutspendezentrum arbeitet. Dieser Mensch ist wütend. Er liest den Spendenden den Fragebogen vor. Wundert sich, wenn Name nicht zur Nationalität passt, wenn Nationalität nicht zur Nationalität der Eltern passt, und spuckt in die Blutbeutel derer, die nicht in sein Weltbild passen. „Und du gehst zum Kühlschrank, holst dir ein Bier und brüllst. […] Du schließt die Fenster, damit die Nachbarn dich nicht hören. […] Und du merkst, dass du dich bepinkelt hast.“

    Nicoleta sagt, Identitäten spielen eine wichtige Rolle. Nicht nur in Moldawien, 25 Jahre nach einem Krieg, für den Nationalität die Ursache war, in ganz Europa.

    EUEuropa ist auch das Thema der Performance, die ich mir am Abend in der Schaubühne Lindenfels ansehe. „FUCK YOU Eu.ro.Pa! / Fuck you Moldova!“ heißt sie. Die Performance ist eine Zusammenarbeit mit Schauspielerin Marina Frenk. Wir werden in den Ballsaal geführt, doch dürfen uns nicht hinsetzen. Wir dürfen auf die Bühne, wird uns gesagt. Hinter dem Vorhang stehen ein paar Stühle, ein DJ-Pult und einige Pappkartons. In der Mitte des kleinen Raums steht ein weißer Hocker. Auf ihm sitzt eine schwarz gekleidete Person mit einer Maske und blonder, langer Perücke. Die Augen der Maske starren mich leer an. Dann klappt die Person die Maske hoch und fängt an zu sprechen: „Papa, ich muss dir was sagen.“
    Es folgt ein unglaublich schnell und ununterbrochener Monolog, es werden lateinische Namen von Krankheiten aufgezählt, lateinische Namen von Medikamenten, dabei wird Popcorn gegessen. Marina Frenk zeichnet auf den Boden die Grenze von der EU zur Sowjetunion, geht zu dem Text über, den Frenk selbst geschrieben hat. Partizipatorisch wird von der Flucht nach Europa erzählt, von Hoffnungen, und deren Zerstörung, vom Witz des Kapitalismus, vom Witz der deutschen Asylpolitik, vom Witz moldawischer Verwandtschaft und moldawischer Schlager.

    „Ich habe kein Land, aber das heißt nicht, dass ich eins haben wollen würde“, sagt Nicoleta Esinencu nach der Performance, nestelt an ihren Schnürsenkeln herum und behauptet, das Stück mit Marina Frenk gestern erst fertig geschrieben zu haben.

     

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    Fotos: mz

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