Der heiligste Teil der Woche
Ein Besuch in der jüdischen Gemeinde Leipzig
Es ist Freitagabend nach Sonnenuntergang. In der einzigen Synagoge Leipzigs beginnt der Abendgottesdienst mit dem Gesang des Vorbeters, der in seinem weißen Gewand hervorsticht unter den schwarz gekleideten Männern. Am Toraschrein, dort, wo sich in einer Kirche der Altar befindet, brennt das „ewige Licht“ in seiner goldenen Halterung. Für Juden ist es das Symbol der steten Anwesenheit Gottes. Der beständige kleine rote Schein ist in der hell erleuchteten Synagoge weithin sichtbar. Über dem Gebetssaal hebt sich ein großer gold-glänzender Davidstern, facettenreich aufgemalt, vom tiefen Blau der Wand hinter dem Toraschrein ab.
Jeden Freitagabend feiern Juden den Kabbalat-Schabbat-Gottesdienst, den „Empfang des Schabbat“. Schabbat bedeutet „Ruhetag“, es ist ein Tag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Er beginnt mit dem Sonnenuntergang am Freitag und endet am Samstag bei Einbruch der Nacht.
Unter den Gottesdienstbesuchern in der Keilstraße ist auch Sahar, der aus Israel für das Physikstudium vor zwei Jahren nach Leipzig gekommen ist. Er trägt an diesem Abend einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd und sein volles, fast schwarzes Haar verdeckt beinahe seine Kippa. „Da ich aus einer sehr religiösen Familie komme, hat der Kabbalat-Schabbat eine große Bedeutung für mich. Die Verrücktheit der Woche endet, ab sofort beginnt die Pause. Keine Elektronik, gar nichts, 24 Stunden lang.“
Der Gottesdienst besteht aus Gebeten, die im Stehen gesungen, Versen, die leise im Sitzen gesprochen werden und Momenten der Stille, in denen jeder für sich betet. Die Sprache des Gesangs ist Hebräisch. In die Melodien des Vorbeters stimmen die unten versammelten Männer mal leiser und mal lauter ein, sodass der Gesang zwischen lebhaft mitreißend und bewegend andächtig wechselt. In einer orthodoxen Synagoge sitzen die Männer und Frauen getrennt voneinander. Für die Frauen ist die Empore vorgesehen, deren Geländer goldene Gitter mit Davidsternen zieren. Die Gebetsbücher liegen in hebräischer Sprache mit russischer Übersetzung aus. Die meisten der Gemeindemitglieder sprechen Russisch als Muttersprache. Am Ende der 1980er-Jahre zählte die jüdische Gemeinde in Leipzig 35 Mitglieder. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wanderten viele Juden aus Osteuropa, insbesondere aus Russland ein, wodurch die Gemeinde wieder auflebte. Im Gottesdienst übersetzt ein Mitglied der Gemeinde die Predigt des Vorbeters vom Deutschen ins Russische.
Internationalität
Nach dem Kabbalat-Schabbat-Gottesdienst, der ungefähr eine Dreiviertelstunde lang dauerte, hört man überall ein „Schabbat-Schalom“. Gegenseitig wünscht man sich so einen gesegneten Schabbat. Sahar und die anderen Jugendlichen laden zum Besuch des Torazentrums der Gemeinde ein, das nur wenige Hausnummern weiter ebenfalls im nördlichen Teil der Innenstadt liegt. Im Torazentrum treffen sich Jugendliche, junge Elternpaare und deren Kinder. Das Familiäre und Freizeitaktivitäten rund um die Gemeinde stehen im Mittelpunkt. Am Freitagabend wird zum Beispiel oft noch gemeinsam der Kiddusch gefeiert.
Mit dem Kiddusch wird der Schabbat durch den Segensspruch über einem Becher Wein oder koscherem Traubensaft eingeleitet. Ein langer Holztisch ist im Torazentrum mit koscherem Fleisch, Salaten und geflochtenen Schabbatbroten, den Challah, gedeckt. Einer der Jugendlichen gießt dunkelroten Traubensaft in einen weißen Plastikbecher. Er beginnt ein Gebet zu singen, dazu stehen alle auf. Sie kennen die Liturgie und die Rhythmen und stimmen an bestimmten Stellen in den melodischen hebräischen Gesang mit ein. Vor der Segnung des hellen Schabbatbrotes waschen sich alle Anwesenden schweigend die Hände, das Gebet endet mit dem Friedenswunsch.
Dann gibt es „Abendessen“: Traubensaft, Cola, Brot und Nudelsalat werden herumgereicht, während heitere Gespräche begonnen werden. Wie in der Synagoge hat die Atmosphäre auch im Torazentrum etwas Internationales. Die Unterhaltungen werden auf Englisch, Russisch und Deutsch geführt, über Alltägliches, Gott und die Welt. Sahar erzählt, dass er mit einer anderen Zeitrechnung aufgewachsen ist. In Israel hat er nach dem jüdischen Kalender gelebt, dessen Monate sich am Mond ausrichten. „Mein Geburtstag nach dem jüdischen Kalender ist der 20. Elul, mein Geburtstag nach dem julianischen Kalender ist am 18. September. Einmal in 19 Jahren passiert es, dass beide Daten auf den gleichen Tag fallen.“ Für Sahar ist das aber kein Problem, da er seit er 18 ist seinen Geburtstag nicht mehr feiert.
Vorurteile
Die Gemeinde ist im kulturellen Leben der Stadt verankert und im Umgang mit Andersgläubigen sehr offen. Ein Mal im Jahr findet die „jüdische Woche“ statt. Auf vielen Veranstaltungen wird dort jüdische Kunst und Kultur präsentiert. Zum Schabbat kommen oft nichtjüdische Besucher. Pfarrer Timotheus Arndt, der auch wissenschaftlicher Mitarbeiter an der theologischen Fakultät der Uni Leipzig ist, hält gemeinsam mit dem Rabbiner der jüdischen Gemeinde, Zsolt Balla, eine Einführungsvorlesung zum Judentum. Mit der gemeindenahen Carlebach-Stiftung finden Synagogenführungen und Schulprojekte statt, das Ariowitschhaus in der Hinrichsenstraße als kulturelles Zentrum der Gemeinde ist zugleich christlich-jüdische Begegnungsstätte.
Juden wird in Leipzig aber nicht nur offen und interessiert begegnet. Die Gemeinde bekommt das immer wieder zu spüren, wenn zum Beispiel Hakenkreuze an die Gemeindetür gesprüht oder Schmähschriften dort hinterlassen werden. Tritt Sahar nach dem Gottesdienst aus dem hohen Portal der Synagoge, die in ein Wohnhaus integriert ist, dann nimmt er wie die meisten anderen Gemeindemitglieder seine Kippa ab. „Hier in Leipzig ist es nicht zu empfehlen, mit der Kippa auf die Straße zu gehen. Wenn wir auf die Straße gehen, dann setzen wir sie einfach ab. Hier im Waldstraßenviertel etwa wäre es kein Problem die Kippa zu tragen, aber es gibt Orte, die sind nicht so sicher.“ Manche Juden setzen sich einfach über die Kippa eine andere Mütze auf. Rabbiner Balla trägt auch auf der Straße die Kippa. Fragt man ihn nach dem wachsenden Populismus dieser Tage und dessen Beurteilung innerhalb der Gemeinde, so antwortet er wohlüberlegt: „Wir als Juden haben immer Angst, wenn jemand Menschen gegen Minderheiten aufhetzt. Deswegen sind wir natürlich auch in großer Sorge. Diese Ressentiments sind wirklich ein Problem – womit aber nicht nur Juden zu kämpfen haben.“
Orthodoxie
Der ungarisch-stämmige Rabbiner Balla möchte das traditionelle Judentum in Leipzig neu beleben. Seiner Ansicht nach könnten besonders die jüngeren Gemeindemitglieder über diese Herangehensweise das Judentum kennenlernen und verstehen. Zur traditionellen Auslegung könne sich grundsätzlich erst einmal jeder Jude bekennen. Die Alterspyramide der Gemeinde steht gewissermaßen Kopf. Es gibt außerdem weniger feste, über mehrere Generationen verankerte Familienstrukturen als in anderen Glaubensgemeinschaften. Zum Teil ist das noch auf den Holocaust zurückzuführen, infolgedessen das jüdische Leben in Leipzig nahezu gänzlich ausgelöscht wurde. Heute sind außerdem relativ Wenige der jugendlichen Gemeindemitglieder religiös. Deswegen kommt der Jugendarbeit große Bedeutung zu.
Vor der Zeit des Nationalsozialismus gab es in der Leipziger Gemeinde zwei Rabbiner, einen orthodoxen und einen liberalen, sodass es den Gemeindemitgliedern freistand, zu welchem Gottesdienst sie gehen wollten. Heute ist die Gemeinde zu klein, sie kann sich nur einen Kultus leisten. Rabbiner Balla ist orthodoxer Jude. „Ich persönlich sehe in der gegenwärtigen orthodoxen Weltanschauung die Möglichkeit und die Hoffnung, dass das Judentum in Deutschland überlebt.“ Die Gemeinde zählt etwa 1.300 Mitglieder, womit sie im deutschen Vergleich eine mittelgroße Gemeinde ist. Die Synagoge bietet dagegen jedoch nur Platz für ungefähr 300 Gläubige. Balla meint dazu mit leichtem Lächeln: „Leider muss ich sagen, dass dieser Platz ausreicht. Ein allgemeines Problem heutzutage.“ Die Lücken in den Bankreihen der Synagoge verschwinden immerhin zu hohen Feiertagen.
Am Freitagabend zum Kabbalat-Schabbat-Gottesdienst stören die leeren Plätze allerdings nicht weiter, allein der Gesang des Vorbeters füllt die Synagoge aus. Ein Mann klopft leicht beschwingt den Rhythmus mit der Hand auf seinem Oberschenkel mit, ein Anderer wiegt seinen Oberkörper zu den Gebeten langsam vor und zurück. Mit dem Kabbalat-Schabbat-Gottesdienst und anschließendem Kiddusch machen sie den Tag zum „Schatz“, wie Sahar frei aus dem Hebräischen übersetzt. „Es gibt da so eine Schönheit, ich sage nicht gerne Heiligkeit. Aber in dieser Stunde, an diesem Punkt ist der heiligste Teil der Woche. Wir singen in der Synagoge ein Lied, dessen Text bedeutet: ‚Lasst uns zu Gott gehen’“.
Fotos: Silvia Hauptmann
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