Arbeitslager und Folterstätte
Ausflug in einen Abschnitt dunkler deutsch-chilenischer Vergangenheit
Chile. Es ist ein heiterer Spätherbsttag Ende Mai. Der Himmel ist blau und das Laub der Pappelbäume, die die Straße säumen, leuchtet golden. Wir haben die Fenster des Autos heruntergelassen und hören laut Musik. Mit einer Gruppe von chilenischen Bekannten bin ich unterwegs zur ehemaligen Colonia Dignidad. „Kolonie der Würde“ als Name für diesen Ort scheint mit Blick auf die Geschichte ein reiner Zynismus. Ich schaue aus dem Fenster und sehe eine verschneite Bergkette der Anden an mir vorbeiziehen. Die Leichtigkeit dieses Tages kontrastiert mit der Grausamkeit der vergangenen Ereignisse, die hier vor noch nicht allzu langer Zeit stattgefunden haben.
Als wir uns dem Gelände der „Villa Baviera“ – „Bayrisches Tal“ wie sich der Ort mit Bezug zu seinen deutschen Wurzeln jetzt nennt – nach einer eineinhalbstündigen Fahrt nähern, werden mannshohe Stacheldrahtzäune sichtbar. Heute markieren diese Zäune lediglich die Grenzen des Grundstücks. Bis vor etwas weniger als zwanzig Jahren waren sie für die damaligen Bewohner die Grenzen ihrer Welt. Ein Gedanke, der mich frösteln lässt. Es war den Bewohnern nahezu unmöglich, die Kolonie zu verlassen.
Innerhalb der ungefähr 40-jährigen Geschichte dieser diktatorisch geführten religiösen Gemeinschaft gelang gerade einmal einer Handvoll die Flucht. Ein perfides Überwachungssystem mit Alarmanlagen, Stolperfallen und Wachhunden verhinderte das Entkommen fast vollständig. Auch das Fehlen jeglicher spanischeren Sprachkenntnisse der aus deutschen Auswanderer war in diesem Zusammenhang möglicherweise Kalkül der Führungsriege, um die Zahl der Flüchtenden so klein wie möglich zu halten. Und die Bestrafungen nach einem Fluchtversuch sollten den Bewohnern endgültig die Lust auf zukünftige Abenteuer dieser Art nehmen: Schläge, Elektroschocks und Einsatz von Psychopharmaka waren laut Aussagen der Betroffenen die Mittel der Wahl.
Ich bin mit der Frage hierhergekommen, warum etwa 160 der ehemaligen deutschen Kolonie-Bewohner bis heute an diesem Ort leben, der mit so vielen schrecklichen Erlebnissen für sie verbunden sein muss. Wie kann es sein, dass sie heute auf dem Gelände ein malerisches Touristendörfchen mit Tretboten und Bierzelt betreiben, in das Familien aus der näheren und weiteren Umgebung fahren, um sich zu erholen? Auch wenn ein Vergleich vielleicht weder angebracht noch möglich ist, kommt mir der Gedanke, wie es wäre, wenn in Deutschland auf dem Gelände eines Konzentrationslagers ein Freizeitpark errichtet oder aus dem ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen ein Luxushotel gebaut würde. Und zusätzlich würden sich die ehemaligen Gefangenen dazu entscheiden, dort zu leben. Es ist nur sehr schwer vorstellbar. Ich bin eine ganz andere Form der Erinnerungskultur gewöhnt.
Auf dem Gelände angekommen, fühle ich mich in ein Deutschland zurückversetzt, das ich aus Filmen der 50er oder 60er Jahre kenne. Kein Wunder: Die Maschinen, Fahrzeuge, Baumaterialien und Möbel wurden damals aus Deutschland mitgebracht, als die ersten Bewohner Anfang der 60er Jahre nach Chile auswanderten. Meine chilenischen Bekannten stürmen als erstes ins Restaurant, in dem „typisch deutsches Essen“ in Form von Braten mit Sauerkraut und Apfelstrudel angeboten wird. Mir bleibt das Essen irgendwie im Hals stecken und die Schlagersänger in Lederhosen auf dem Bildschirm über uns, tragen auch nicht dazu bei, meine Laune zu verbessern.
Während die anderen genussvoll essen, entscheide ich, mich ein wenig auf dem Gelände umzusehen. Das am nächsten liegende Gebäude ist das Wohnhaus des ehemaligen Anführers Paul Schäfer. Am und im Haus gibt es keine Tafel an der steht, wer hier gewohnt hat und ich kann dieses Haus lediglich durch Dokumentarfilme und Bücher zuordnen, die ich vor meinem Besuch gesehen und gelesen habe. Keine Zeile gibt einen Hinweis auf die unfassbare Grausamkeit und Kaltblütigkeit dieses Menschen.
Paul Schäfer hat mit Unterstützung von einigen ihm nahestehenden Führungspersonen nicht nur Familien auseinandergerissen, Menschen durch körperliche und psychische Gewalt fügsam gemacht und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Er hat außerdem Jungen und junge Männer scharenweise sexuell missbraucht, war in den Waffenhandel verstrickt und in Zeiten der Militärdiktatur Chiles (1973 – 1990) hat er mit dem Militär zusammengearbeitet und politische Gegner gefoltert oder für immer verschwinden lassen.
Ein Großteil dieser Taten ist nicht aufgeklärt worden und es gibt noch heute Demonstrationen vor den Toren der Kolonie von Angehörigen, die bisher keine Auskunft darüber erhalten haben, was mit ihren Familienmitgliedern während der Diktatur passiert ist. Paul Schäfer selbst kann diese Frage nicht mehr beantworten. Er ist 2010 in einem chilenischen Gefängnis verstorben, in dem er seit 2005 seine Haftstrafe absaß. Verklagt wurde er ausschließlich wegen sexuellen Missbrauchs. Einige seiner direkten Unterstützer und Helfer sitzen bis zum heutigen Tag in Chile hinter Gittern während ein anderer Teil der ehemaligen Führungspersonen vor der chilenischen Justiz nach Deutschland geflohen ist und dort unbehelligt lebt.
Ich betrete das Haus, in dem dieser grausame Mensch gewohnt hat,und kann es nicht fassen, dass hier ausschließlich Belege über die erfolgreichen Orchesterkonzerte und Tanzaufführungen der Kolonie zu finden sind. Aber nicht nur auf dem Gelände selbst ist diese Tendenz zur Verzerrung der Tatsachen ausgeprägt. Der Bibliothekar in meinem etwa 140 Kilometer entfernten Wohnort Linares erwähnte mir gegenüber beispielsweise, dass er es schade fände, wenn nur die negativen Errungenschaften der Kolonie in Erinnerung bleiben würden. Immerhin hätte die Kolonie Land fruchtbar gemacht und den armen Bauernfamilien in der umliegenden Region den Schulbesuch der Kinder und kostenlose Behandlungen in ihrem Krankenhaus ermöglicht.
Abgesehen davon, dass sowohl die Schule als auch das Krankenhaus nach heutigem Wissensstand in viele weitere dunkle Geheimnisse verwickelt waren, ist es natürlich mehr als gewagt zu behaupten, man könne das Missachten jeglicher Menschenwürde mit erfolgreicher Landwirtschaft, einer Schule und kostenlosen Krankenhausbesuchen aufwiegen. Diese öffentlichen Erfolge der Kolonie konnten jedoch von den Freunden Schäfers in der Politik ‒ wozu neben chilenischen Politikern angeblich auch deutsche Botschaftsmitarbeiter zählten ‒ bei der Polizei und im Gericht als Beweis für die Wohltätigkeit dieser Gemeinschaft herangezogen werden. Nur durch das große Netzwerk loyaler Freunde lässt es sich aus heutiger Sicht erklären, warum dieser Schreckensherrschaft innerhalb der Kolonie so lange kein Ende gesetzt wurde
Bei meinem Spaziergang über das Gelände sehe ich einige der Bewohner im hohen Alter, die hier fast ihr ganzes Leben verbracht haben. Für sie war die Colonia Dignidad 30 oder 40 Jahre lang die einzige Lebensrealität, die sie kannten. Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, warum sie auch heute noch hier leben. Bis zur Öffnung der Gemeinschaft konnten die meisten Bewohner kein Wort Spanisch sprechen, was eine Integration in die chilenische Gesellschaft enorm erschwerte. Letztendlich sind sie sowohl in Chile als auch in Deutschland Fremde.
Mit den Touristen können sie sich inzwischen auf Spanisch verständigen – auch wenn ein starker deutscher Akzent bleibt. Mehrmals versuche ich mir ein Herz zu fassen und einen der Bewohner anzusprechen, aber ich weiß nicht, wie ich ein Gespräch beginnen soll. Sowohl Smalltalk als auch Fragen über die persönliche Vergangenheit scheinen mir unangebracht. Ich fühle mich voyeuristisch und schäme mich für meine Neugierde. Letztendlich ringe ich mich durch, die Verkäuferin in einem kleinen Laden für landwirtschaftliche Produkte anzusprechen. Sie braucht ein paar Augenblicke bis sie registriert, dass ich versuche, auf Deutsch mit ihr zu kommunizieren, aber freut sich dann über mein Interesse.
Seit wenigen Wochen gebe es nun endlich ein Museum auf dem Gelände der Kolonie, erzählt mir die Verkäuferin. Dort würden zum ersten Mal auch die dunklen Seiten der Geschichte beleuchtet. Als Beispiel erwähnt sie die kompromisslose Trennung der Geschlechter. Männer und Frauen hatten so gut wie gar keinen Kontakt miteinander. Sie sagt, schon in ihren Schulbüchern sei jede Erwähnung oder Abbildung eines Jungen oder Mannes entfernt worden. Der Aufbau des Museums habe für einen großen Konflikt zwischen den Bewohnern gesorgt, da die eine Hälfte die Vergangenheit endlich ruhen lassen möchte, während die andere Hälfte es wichtig findet, sich damit auseinanderzusetzten und sie der Öffentlichkeit zu zeigen.
Ich würde nur zu gerne dieses Museum besichtigen, aber meine chilenischen Bekannten langweilen sich und drängen zur Heimfahrt. Ihnen fällt es schwer nachzuvollziehen, warum ich mich so sehr für die Vergangenheit interessiere. Für sie ist „Villa Baviera“ einfach ein erholsames Ausflugsziel. Der Spätherbsttag endet mit einem wunderschönen Sonnenuntergang. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es fehl am Platz ist, eine solche Schönheit an einem Ort wie diesem zu genießen.
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