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  • Der Staat – und immer wieder der Staat

    Das DOK-Festival am 1. November2017

    Es ist der zweite Tag des DOKs und die Besucher drängen sich in den ausverkauften Kinosaal. Sogar die erste Reihe ist komplett besetzt. Irgendwo mittendrin sitzt der Regisseur des Films. Das Licht geht aus. Draußen ist ein regnerischer Tag und im Kinosaal heißt es: Alle gegen die Staatsgewalt. Denn nicht nur das DOK feiert den 60. Geburtstag, sondern auch die Oktoberrevolution wird 100.

    Im DOK-Programm finden sich viele Leckerbissen, die die russische Seele filmisch aufbereiten.

    Den Auftakt macht eine Dokumentation mit dem Titel Soviet Hippies. Ja, es gab Hippies in der UdSSR, nur keiner durfte es wissen. Regisseur Terje Toomistu entführt den Zuschauer in eine Parallelwelt abseits der Paraden auf den Vorzeigeplätzen. Durch Interviews mit Alt-Hippies mit langen Bärten und Atemgerät erzählt Terje langsam ihre Geschichte. Er nähert sich verschiedenen Hippies an, die aus dem ganzen Ostblock stammen, von Moskau über Kiew bis nach Talinn. Sie alle rebellieren; zunächst nur durch ihr auffälliges Aussehen und die Beatles. Man wittert einen politischen Komplott. Die Interviews mit den Anhängern zeigen aber ein friedliches Bild. Sie trampen von Estland bis Moskau, kaufen Rama, einem alten Mann ein Haus und lernen von ihm spirituelle Praktiken. Wie Hippies eben sind. Die Kamera bleibt stets ruhig und analytisch. Fakten gibt es zu dieser Geschichte nicht. Alles erzählt von jenen, die noch immer nach der Freiheit suchen. Der Höhepunkt ist das alljährliche Treffen der Hippies. Da machen sie, was sie schon  immer machten – Musik, Drogen und Spiritualität. Es ist ein friedlicher Film zum Schmunzeln und Wundern, wie klein doch die Unterschiede zwischen Hippies weltweit waren.

    Ein anderes eisiges Bild kommt aus Sibirien. Dort erbt die Regisseurin Aliona van der Hoorst 6 qm² in dem Geburtshaus ihrer Mutter. Von ihrer Heimat, den Niederlanden, aus sucht sie nach Spuren der Familiengeschichte in dem klapprigen Hüttchen. Aliona trifft dort auf ihre Tante und ihre Cousins. Sie beginnt zu filmen und nähert sich dem dunklen Kapitel der sowjetischen Geschichte zwischen Hungersnot und Besatzung.

    Der Film ist für den Internationalen Wettbewerb ausgewählt worden und obwohl ich mit Skepsis in den Kinosaal ging, kam ich begeistert wieder heraus und kann die Nominierung nur allzu gut nachvollziehen. Aliona packt den Zuschauer mit unkonventionellen Art zu filmen. Sie kombiniert Animationen von Simone Massi, die sie für das Projekt gewinnen konnte, und interessanten Perspektiven. Es ist immer ruhig in dem Haus voller Erinnerungen. Die ehemaligen Bewohner sind tot, sprechen nicht mehr miteinander oder können nicht mehr sprechen, wie Alionas Mutter. Die Tochter ist gepackt von dem Willen, Antworten zu bekommen: Antworten zum Leidensweg ihrer Mutter und ihrer eigenen Vergangenheit: Warum wollte die Mutter Russland verlassen? Nur aus Liebe? Mit einer unglaublichen Herzlichkeit und Einfühlsamkeit arbeitet sich Aliona Schicht für Schicht vor.

    Ein tolles Erlebnis sind die Q’n’As, ein neudeutscher Ausdruck für eine simple Fragerunde, am Ende der Vorstellungen. Aliona hat mit viel Enthusiasmus die Fragen beantwortet, genauso wie der Regisseur des letzten Films am Mittwoch: Advantage.

    Advantage ist ein unglaublich emotionales Werk über drogensüchtige Teheraner, die es eigentlich nicht geben sollte – so wie die Hippies. Von der Gesellschaft ausgegrenzt suchen sie Hilfe in einem Heim. Dort beginnt für sie ein neues Leben, aber nur, wenn sie sich an die Regeln halten. Mohammad Kart ist den Männern so nah und die intimen Einblicke in die Gefühlswelt der Männer verraten Schreckliches. Es ist ein Wechselspiel zwischen lebendigen Tanzszenen und Szenen des körperlichen beziehungsweise seelischen Schmerzes. Das hauseigene Fußballteam ist eine große Motivation für die Männer. Sie haben ein entscheidendes Spiel. Sie müssen gewinnen. Es wird zum symbolischen Sieg über den Feind auf dem Platz und dem inneren Feind, der Lust nach Drogen. Mohammad wird zum Vertrauten und trotz der unmittelbaren Nähe zu den Protagonisten, ist es nie unangenehm, einem Fremden so nah zu kommen. Ganz im Gegenteil am Ende scheint man die Männer schon jahrelang zu kennen.

    Es war ein spannender Tag zwischen Einfühlsamkeit und politischem Aufruhr. Wenn alle Filme so gut sind, sollte das DOK nie zu Ende gehen.

     

    Foto: © 2016 Copyright Kultusfilm OÜ

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