Jeder kann Jesus Christus sein
Mario Schröder feiert mit der „Johannes-Passion“ Premiere an der Oper Leipzig
Es ist dunkel. Leise Stimmen erfüllen den Saal. Man schaut sich um, versucht die Stimmen ausfindig zu machen und starrt schließlich auf den eisernen Vorhang. Als dieser dann hoch gezogen wird ist die Bühne fast leer. Einzig ein paar Säulen rahmen die Bühnenfläche. Immer lauter, immer chaotischer erklingen die Stimmen plötzlich aus irgendeiner Ecke des Opernsaals, als schließlich die Säulen nach und nach anfangen über der Bühne zu schweben. Ein schneller Lichtwechsel, fast schon wie ein zarter Wink. Endlich erklingt das Orchester des Gewandhauses, endlich beginnt der Opernchor Bachs Werk zu singen, endlich tritt das Leipziger Ballett auf. Männer in weißen Hosen mit nacktem Oberkörper laufen hastig über die Bühne, springen Cabriolen und Assemblés, drehen Piqués. Es sind die Jünger Jesu und unter ihnen sogar Jesus selbst. Für den Betrachter allerdings ist dieser nicht klar erkennbar, denn während des Balletts wechseln die Tänzer stetig durcheinander. Jeder ist hier mal Jesus. Jeden könnte die Verleugnung durch Petrus, das Leiden unter Pontius Pilatus, die Folter und die Kreuzigung, die im Johannes-Evangelium des Neuen Testaments geschildert werden, treffen. Aber auch innerhalb der anderen großen Personengruppen, wie den Priestern oder dem Volk, treten immer wieder neue Formationen auf. Nur bei genauem Hinsehen erkennt man eine Tänzerin, die eben noch ein Apostel war, als Priesterin. Das Besondere an diesem Werk sind allerdings vielmehr die Rollen der Tänzer Yan Leiva und Anna Jo: Sie stellen die Erzähler der einzelnen Geschichten dar und agieren als Bindeglied zwischen Textinhalt des Chors und tänzerische Darbietung. Immer wieder wird das Stück aufgebrochen durch verschiedene Lichteffekte und das Spiel mit der Veränderung des Bühnenraums durch die Säulen. Die schlichten Kostüme und das minimalistisch gehaltene Bühnenbild, beides von Paul Zoller, lenken dabei nie vom Wesentlichen ab. Dadurch kann sich der Zuschauer tatsächlich mit jedem Tänzer identifizieren kann. Nicht nur zu Bachs Zeiten waren Themen wie Macht, die Ohnmacht des Einzelnen oder die Frage nach Schuld und Verantwortung aktuell.
Mario Schröder schafft mit seiner „Johannes-Passion“ ein kulturell anspruchsvolles Werk, das nicht nur den Leidensweg Jesu Christi gut illustriert, sondern ebenso Johann Sebastian Bachs Musik ehrwürdig inszeniert. Sowohl das Gewandhausorchester unter Leitung von Paul Jeremy Goodwin als auch der Opernchor unter Leitung von Alexander Stessin, brillieren im gesamten Stück. Besonders erwähnenswert sind hierbei die Sopranistin Magdalena Hinterdobler und Altus Benno Schachtner. Das Leipziger Ballett überzeugt seinerseits mit einer enormen Ausdruckskraft und Leichtigkeit. Der Besuch lohnt sich nicht nur um einen musikalischen und tänzerische Einblick in Jesu Christis Leben zu erhalten, sondern auch um über die großen Fragen unserer Zeit nachzudenken, etwa: Wie viel Verantwortung und Schuld trägt denn nun jeder Einzelne für sein Handeln?
Weitere Aufführungen am 22.November 2017, 31. März, 8. & 10. Juni 2018
Fotos: Ida Zenna
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