• Menü
  • Reportage
  • „Und wir machen jetzt daraus ein Volksfest“

    Zu Besuch bei der alljährlichen Darstellung der Völkerschlacht bei Leipzig

    Das war echt eine Bombe“, schreit ein Junge von etwa 6 Jahren begeistert, als eine gewaltige Detonation das Schlachtfeld erschüttert. Die Explosion klingt anders, voller natürlich als das staubige Knattern der Gewehre, aber auch eine ganze Ecke brachialer als das Kanonendonnern zuvor: Sie beginnt mit einem Zischen, gefolgt von einem rumpelnden Knall, der das Trommelfell beiseite fegt und sich bis ins Brustbein zu fräsen scheint. Dem Kleinen gefällt es. Mit leuchtenden Augen verfolgt er, wie bunt gekleidete Soldaten ihre Waffen nachladen, um eine weitere Salve aufeinander abzufeuern. Vielleicht kommt ja gleich noch so ein Ding?

    Kleine Zuschauerin bei der Nachstellung der Völkerschlacht bei Leipzig

    Europäische Geschichte zum Greifen nah.

    Die Leute hier spielen nur Krieg, heute wird keiner auf dem Schlachtfeld sterben. Die echte Völkerschlacht von 1813, die hier nachgestellt wird, war allerdings ein Gemetzel. Etwa 100 000 Menschen starben im Kampf, erlagen ihren Wunden oder wurden von Krankheiten dahingerafft. Napoleon verlor die Schlacht und bald darauf sein Kaiserreich, Europas Tisch wurde neu gedeckt. Daraus kann man natürlich touristisches Kapital schlagen: Darum gedachte Leipzig 2013 der Völkerschlacht in einer einwöchigen 200-Jahresfeier, die kein Jubiläum sein wollte und es dann irgendwie doch war. Immer wieder war Kritik zu hören: Hier würde Krieg verharmlost und Militarismus glorifiziert. Fern von diesem einmaligen Trubel kommen aber seit Jahrzehnten jeden Oktober hunderte bis tausende Menschen zusammen, sogenannte „Reenactors“, um die Ereignisse rund um die Kämpfe nachzustellen.

    Dreispitz und Bockwurst
    Wer sich das genauer ansehen will, fährt am besten mit der Bahn nach Markkleeberg. Von der Endhaltestelle läuft man durch den beschaulichen Vorort, links am Vorgarten, rechts an der Schäferhund­zucht vorbei. Dann steht man am Torhaus Markkleeberg und ist auf einmal in einer völlig anderen Welt: Überall sind Frauen in weiten Kleidern und weißen Hauben sowie Männer in vielfarbigen Uniformen zu sehen. Sie sitzen am Lagerfeuer, stehen an der Schänke für ein Bier an, bieten Ware an verschiedenen Ständen feil oder tratschen vor ihren Zeltlagern. Eine Kompanie von etwa 50 Mann und einigen Frauen und Kindern marschiert im Gleichschritt herbei, formiert sich zu Trommelwirbel und Dudelsack im Rechteck auf dem Marktplatz, das Gewehr geschultert, bis der Anführer etwas Unverständliches brüllt und die Menschen auseinanderströmen.
    Aus ganz Europa kommen die Reenactors, sagt Michael Kothe, Vorsitzender des Verbands Völkerschlacht bei Leipzig e.V., der über ein Jahr lang die Veranstaltungen organisiert hat. Alle haben sie ihre eigenen Gründe, hier zu sein. So zum Beispiel Bert, Ende 20, und seine Truppe. Die grüne Uniformjacke und die graue Hose weisen sie als Mitglieder der deutsch-russischen Legion aus. Während sein Freund nach eigenem Bekunden „nicht unbedingt der Geschichts­interessierte“ ist und zum ersten Mal selbst teilnimmt, fährt Bert seit zehn Jahren zu ähnlichen Veranstaltungen quer durch Europa. Beide freuen sich diebisch, gestern noch Napoleon getroffen zu haben – der kommt dieses Jahr anscheinend aus Paris. Ganz in Blau kommt der vor geschichtlichen Anekdoten übersprudelnde Erik-Thomás Meunier daher, der zwar schon bei zahlreichen Reenactments dabei war, aber heute zum ersten Mal den Finger selbst am Abzug hat. Für den Kampf in den Reihen der Franzosen hat der Achtzehnjährige nicht nur einen französischen Namen angenommen, er hat sogar einen Revolutionspass aus alten Zeiten dabei. Daniel spielt Volksweisen auf seiner irischen Flöte und Maximilian erzählt stolz, dass er für die Teilnahme für 300 Euro einen „Schwarzpulverschein“ machen musste. Bianka, die am Grill steht, beklagt, dass die Frauen eigentlich den anstrengenderen Job hätten: Nach der Schlacht müssten sie auch noch „ihre Pflicht erfüllen“ und ihren Männern Schnaps und Snacks bringen.

    Die Reenactors kommen aus ganz Europa um die Völkerschlacht bei Leipzig nachzustellen

    Die Reenactors kommen aus ganz Europa um die Völkerschlacht bei Leipzig nachzustellen

    Sie alle scheinen wegen des Gemeinschaftsgefühls hier zu sein, dazu manch einer eher aus sportlichem Antrieb, der andere mehr aus geschichtlicher Neugier. Einige können die Kritik an Kriegsdarstellungen verstehen, das sei „ein schwieriges Thema“, einige widersprechen ausdrücklich: Die Schlacht sei ja nur eine von vielen Veranstaltungen, die sich immerhin über drei Tage hinweg zögen. Überhaupt gehe es um „gelebte Geschichte“! Das Reenactment diene der „lebendigen Geschichtserfahrung und –vermittlung“, sagt Kothe. Das Defilieren und Exerzieren, die Waffen und der militärische Drill? Daran scheint sich keiner zu stören.

    Ein Friedensfeuer
    Am Einlass gibt es das Heftchen „Napoleons Armee: Uniformen zum Ausmalen“ für die ganz Kleinen, danach gelangt man zum Schlachtfeld. Ein niedriger Zaun trennt Schlachtwiese vom Publikumsplatz: Auf der einen Seite sammeln sich die ersten Darsteller, einige davon auf Pferden, auf der anderen warten tausende Menschen auf den Beginn des Spektakels. Johnny Cash singt, er wäre gerne „a million miles away“, ein Ansager ermahnt die Zuschauer, hinter der Absperrung zu bleiben. „Wir möchten nicht, dass ihr nach Hause kommt und sagt ‚Oh, mir fehlt ein Arm, mir fehlt ein Bein‘.“ Die Schlachtendarstellung diene dem „Bewahren von Geschichte im Geiste von Frieden“, denn „Menschen, die zusammen an Lagerfeuern sitzen, schießen nicht aufeinander.“ So steht die Jahresfeier auch unter dem Motto „Kriegsfeuer 1813 – Friedensfeuer 2017“. Unter den Zuschauern sind die Gefühle gemischt: Sabine und Hans-Jörg zum Beispiel kommen jedes Jahr, als alteingesessene Markkleeberger hätten sie einfach einen historischen Bezug zur Völkerschlacht. Ob denn der Krieg verharmlost würde? Man könne sich ja die schwierige medizinische Versorgung im Lazarett ansehen. „Der Gedanke kam mir aber auch“, sagt Sabine. All das Leid – „und wir machen jetzt daraus ein Volksfest“. Amalia, heute als Königin von Sachsen hier, kann die Aufregung allerdings nicht verstehen. Kriege hätten auch immer technologische Entwicklungen herbeigeführt und die Darsteller, das seien „alles Pazifisten“.
    Als die Soldaten dann beginnen, aufeinander zu schießen, wird aber jedes Gespräch unmöglich. Das Schlachtfeld wirkt ob seiner Größe seltsam leer, aber die etwa 500 Soldaten machen das durch puren Schalldruck wieder wett. Rauch­schwaden verhüllen nach und nach die Sicht, während die Soldaten aus vollem Rohr aufeinander feuern und trotzdem nicht umfallen.

    Ein Biwak von Innen

    Blick in ein Biwak

    Wem das zu laut wird, kann weiter spazieren. Am Torhaus Dölitz, auf der anderen Seite des Veranstaltungsgeländes, finden sich weitere Imbissbuden, Marktstände und historische Zeltlager, sogenannte Biwaks. Kerstin und ihre Familie stellen hier „das Leben am Rande der Schlacht“ nach: Tagelang kuscheln sie sich in ihrem liebevoll ausgestatteten Zelt zusammen, ihre Kleidung haben sie teils selbst genäht. Warum die Soldaten in der Schlacht heute so standhaft blieben, kann Herr Leisner erklären, der einen Offizier der sächsischen Armee verkörpert: „Wenn sie das bei der Entfernung realistisch darstellen, würde nach fünfzehn Minuten keiner mehr dastehen.“ An dieser Stelle will er gleich einmal das vermeintlich schiefe Bild der Sachsen zurechtrücken: Die hätten nämlich „den Franzosen den Arsch gerettet“. Fahnenflucht sei auch aus heutiger Sicht „das größte Verbrechen“, und, wo er schon einmal dabei ist, Gleichstellungsbeauftragte „Dünnschiss in großen Tüten“.

    Seife und Apfelsaft
    Nach der Schlacht ist das Schlachtfeld verwaist, überall liegt vom Schießpulver geschwärztes Zeitungspapier herum. An Pferden vorbei, die hoffentlich noch irgendetwas hören können, kehrt man zurück zu den Marktständen: Hier gibt es handgemachte Seife, frischen Apfelsaft, Napoleon mit Einsteckhand, Honig, Handtaschen, Napoleon beim Lesen und junge Bücher in altertümlicher Optik, in deren Klappentexten Autoren, die mit Begriffen wie „Ehre“ hantieren, für ihre „subjektiv-patriotische Rhetorik“ gerühmt werden. Auf dem Weg nach draußen marschiert eine Frau fröhlich im Gleichschritt mit ihrer Tochter und ein polnischer Reenactor ruft: „Deutschland gut!“ Ja – aber liegt da nicht das Problem?

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.