Ein kaltes System
Im Januar 2013 veröffentlichte student! eine Reportage über Obdachlose, für die das Hörsaalgebäude der Uni ein Schutzraum ist. Nach fünf Jahren hat Redakteurin Nathalie das Thema neu aufgegriffen.
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“, so besagt es Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Wir leben in einem Land, in dem jeder eine Chance auf Bildung erhalten soll. Die Leipziger Universität bietet dafür den Zugang. Von anderen Universitäten hebt sie sich aber noch durch einen anderen Zugang ab: Der Hauptcampus ist tagsüber für alle Menschen frei zugänglich. Und so ist sicher jedem, der sich ab und an mal in eine Vorlesung begibt, bewusst, dass hier nicht nur Studierende sondern auch gemeinnützige Organisationen, Geschäftsleute oder einfach Touristen den Alltag beleben. Und dann sind da noch jene, die hier einfach ein wenig Schlaf, Ruhe oder schlicht Wärme suchen. Sie suchen Obdach.
Wohnort: Campus Augustusplatz
Vor mittlerweile fünf Jahren befasste sich student! erstmals mit der Geschichte jener obdachlosen Männer, die man am Campus Augustusplatz beinahe täglich antreffen kann. Damals ging es um Jens und um Günther, die durch ungünstige Lebensereignisse ihre Miete nicht zahlen konnten und plötzlich auf der Straße saßen. Sie plauderten über Hobbys wie die Leidenschaft zum Stricken, äußerten ihre Dankbarkeit und zeichneten Zukunftspläne fern von der Wohnungslosigkeit, wenn sie vielleicht eines Tages Rente beziehen könnten. Die Vorstellung von solch einer guten Wendung ist wünschenswert, Jens und Günther jedenfalls sieht man dieser Tage nicht mehr im Hörsaalgebäude. Auch die Zahlen scheinen erstmal Besserung zu versprechen. Gibt die Wohnungsnotfallhilfe der Stadt Leipzig vor fünf Jahren noch an, dass 2011 rund 300 obdachlose Männer das stadteigene Übernachtungshaus als Notunterbringung nutzten, teilt man mir heute mit, dass Endes 2017 in Leipzig insgesamt 239 Personen auf Grund von Wohnungslosigkeit notuntergebracht waren. Doch wie glaubwürdig diese Zahlen in Wirklichkeit sind, ist fraglich. „Niemand kann sagen, wie viele Obdachlose es gibt, die Fluktuation ist da sehr hoch. Ich kenne überhaupt nur etwa drei Prozent der Menschen, mit denen wir in der Innenstadt zu tun haben, die das Obdachlosenhaus nutzen“, meint Streetworker und Sozialarbeiter Christian Pahrmann von der Diakonie Leipzig. Im Verbund mit dem Caritasverband unterhält diese die „Leipziger Oase“, eine Tageseinrichtung für wohnungslose Menschen. Tatsächlich gebe es viele Obdachlose, die gar nicht sichtbar in Erscheinung treten. Die Stadt habe zwar die ordnungsrechtliche Verpflichtung, Obdachlose 24 Stunden unterzubringen, doch im Grunde bezahlt sie nur den Raum, nicht was darin stattfindet. So kostet ein Bett im Übernachtungshaus die Wohnungslosen eine Gebühr von fünf Euro pro Nacht. Da sich die Unterkunft für Männer zudem in Leutzsch fernab vom Zentrum befindet, ziehen viele Obdachlose dann die Straße doch den Einrichtungen vor. Ein Bild, das dann eben nicht mehr so rosig aussieht.
Hohe Berge und tiefe Täler
Als nicht ganz so rosig kann man auch die Sichtweise bezeichnen, die Werner auf die Stadt und auf das allgemeine System in Deutschland hat. Werner gehört ebenfalls zu den Gesichtern, die man am Hauptcampus dieser Tage häufiger sieht. „Die habe ich schon gelesen“, ruft er uns zu, als wir samt unserer aktuellen Ausgabe auf ihn zukommen. Werner ist seit zwei Jahren in Leipzig, auch er ist obdachlos und nutzt die Uni hin und wieder als Aufenthaltsort. „Meine generelle Lebensgeschichte ist viel Berg und Tal. Ziemlich hohe Berge und ziemlich tiefe Täler“, erklärt er. Ursprünglich war er im Gaststättengewerbe tätig, besaß immer wieder Cafés und Kneipen, war viel im Ausland tätig. Mit 27 folgte dann aber die Scheidung, seiner Frau wurde das Vermögen zugesprochen und der Laden ging in die Brüche. „Das soll jetzt kein Beklagen sein. Das war einfach eine Entwicklung, wo ich nicht aufgepasst habe, ich war ja auch noch sehr jung“, gibt er zu. Viele Jahre später hofft er nun, bald wieder nach Spanien zurückkehren zu können. Dort besäße er schon seit vielen Jahren eine Wohnung, dort sei das Leben einfach besser. „Wenn nächste Woche meine Rente da ist, bin ich erstmal wieder weg“. Am liebsten wäre er gar nicht zurückgekommen in dieses Land, in dem er sich nur noch betrogen und ausgelassen zu fühlen scheint. Immer wieder schüttelt Werner verständnislos den Kopf, erzählt von Unterschieden zu Systemen in Spanien oder der Schweiz und wirft nebenbei den vorbeigehenden Studierenden einen misstrauischen Blick zu. „Hast du in Deutschland schon mal junge Leute in der S-Bahn zusammen singen oder tanzen sehen?“, wirft er plötzlich ein. Die Mentalität sei ihm hier einfach zu verbissen, es fehle Flexibilität und Freundlichkeit. Selbst unterhalte er sich aber eher nicht mit Studierenden oder anderen Personen in der Uni, dafür sei er nicht der Typ. Fragt man ihn nach seinem Alltag, zuckt er mit den Schultern. Er surfe ein bisschen im Internet, helfe beim Bauen einiger Websites, habe auch schon sechs Jahre Vereinsmagazine von Fußballvereinen erstellt. Dann geht er zwei bis dreimal am Tag durch die Uni und sammelt Pfand im Gebäude. Damit kommt er meist auf zehn bis 15 Euro am Tag. „Das reicht“. Manchmal verbringt er die Nacht dann auch in einem Hostel.
Stilles Einvernehmen
Immer wieder stellt man sich die Frage, wie viel von dieser Geschichte man glauben darf, aber vor allem, wie viele weitere es davon gibt. Allgemein sind Männer häufiger als Frauen von Wohnungslosigkeit betroffen. Sämtliche Hilfeangebote werden überwiegend von Männern genutzt, betonen sowohl die Stadt als auch die Vertreter der Leipziger Oase. Zwar kommt man in der Einrichtung noch auf ein Verhältnis von 50:50, auf der Straße selbst geht man aber eher von 90:10 aus. „Männer vereinsamen schneller, Frauen kennen eher noch Leute, haben funktionierendere Netzwerke“, erklärt Pahlmann. Er erzählt auch von Fällen, die so gar nicht unserem klischeebehafteten Bild des Obdachlosen entsprechen. „Wie viel weiß man denn von deren Leben? Verdeckt ist da glaube ich noch viel mehr, als man offen sieht“, gibt er zu Bedenken. Werner erzählt von einer Gruppe von ungefähr acht Leuten, die sich regelmäßig in der Uni aufhalten. Er weiß aber auch, dass sich nicht alle so im Hintergrund halten wie er. Manche sind oft betrunken, randalieren und beklauen Studierende. „Es sind immer die Gleichen“, sagt er kopfschüttelnd. In der Mensa und in der Bibliothek hat man dafür einen Security-Dienst. Der Rest läuft dann irgendwie in stillem Einvernehmen. „Ich denke, es ist ein bisschen unklar, wie man mit dem Thema umgehen soll. Die Augen richtig aufmachen will eigentlich keiner. So wie es jetzt läuft, ist ja alles gut. Niemand beschwert sich, alle halten den Mund, die paar Probleme werden diskret vom Sicherheitsdienst gelöst und dann ist die Sache gegessen“, argumentiert Pahlmann.
Menschen wie du und ich
Dabei wäre es in den Augen des Streetworkers Pahlmann gerade von Bedeutung, hier ein Statement zu setzen. Man brauche ein Angebot, das vor Ort Beratung anbietet und die Obdachlosen tatsächlich integriert. „Wie unattraktiv sind die Angebote eigentlich? Die Uni hat einen attraktiveren Zustand für Wohnungslose, was sagt das aus? Man kann froh sein, dass es geduldet wird. Aber man könnte auch einfach öffentlichkeitswirksamer und offensiver damit umgehen, zum Beispiel in Form von Kampagnen“, erklärt er. Allgemein fällt auf, dass sich die Lage der Obdachlosen seit dem Artikel im Januar 2013 deutlich gewandelt hat. Da war die Flüchtlingskrise ab 2015 mit allen Problemen, welche die massenhafte Zuwanderung mit sich brachte. Plötzlich waren viel mehr Menschen auf der Straße, man musste etwas unternehmen. Gleichzeitig rückten dabei dann diejenigen in den Hintergrund, denen es schon vorher schlecht ging. In Bezug auf Diskriminierung war es aber schlicht nicht zulässig, dass EU-Migranten Angebote zur Verfügung stehen, während deutschen Bürgern nur bedingt geholfen wurde. Also kamen Notlösungen wie die Unterbringungen der Stadt, die aber letztlich oft von wenig Nutzen sind. Da scheint es kein Wunder, dass Männer wie Werner das System verfluchen und sich betrogen fühlen. Verstärkt wird das letztlich dann auch durch die öffentliche Meinung. Wenn man kurz innehält, wird man auch im eigenen Denken das stereotype Bild des Obdachlosen wiederfinden. Immer weiter scheint sich unsere Gesellschaft wegzubewegen von einer Mentalität der Akzeptanz, in Zeiten, in denen das vielleicht das stärkste Mittel wäre. So fällt es beinahe schwer, Werners Argumenten zur Verlogenheit der Deutschen etwas entgegenzusetzen. Doch vielleicht sollte gerade das einen Anstoß geben. Dazu, endlich auf eigene Faust zu handeln und sich zu überwinden, damit dieses Misstrauen nicht die Oberhand gewinnt. Denn dann wird man merken, so erklärt es Pahlmann, „dass das auch nur Menschen sind wie du und ich.“
Die student!-Reportage „Hoffnung auf wärmere Zeiten“ aus der Januarausgabe 2013 gibt es hier zu lesen (Seite 3).
Titelfoto: Nathalie Trappe
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