Zwischen Sinnlichkeit und poetischen Fratzen
Begleitet vom Gewandhausorchester feiern „Boléro“ und „Le sacre du printemps“ Premiere an der Oper Leipzig. Erst dominiert schlichte Kostümierung, danach erschrecken angsteinflößende Clownsfratzen.
Der Opernsaal ist restlos gefüllt, die Zuschauer gespannt und in freudiger Erwartung auf ein schönes Ballett, das ihnen mehr als einmal den Atem stocken lassen soll. Der schwedische Choreograf Johan Inger und der Direktor des Leipziger Balletts, Mario Schröder, brachten dieser Tage mit „Boléro“ und „Le sacre du printemps“ zwei Skandalstücke des frühen 20. Jahrhunderts auf die Bühne.
Ein einzelner Tänzer geht zielgerichtet in Richtung Bühnenmitte. Als der Vorhang seinen Weg nach oben findet, läuft er zu einer Wand. Er klopft, Türen öffnen sich und er verschwindet schließlich hinter einer davon. Das Gewandhausorchester unter Leitung von Matthias Foremny beginnt zu spielen. Eine wunderschöne, eingängige Musik, von der man nicht genug hören kann. Überhaupt erschafft „Boléro“ auf der Bühne fast schon ein Zauberwerk. Die Wand als zentrales und einziges Bühnenelement bringt immer neue Tänzer zum Vorschein. Sie öffnet den Raum für Spaß und Feiereien, ist Versteck für Spiele. Sie fällt und richtet sich auf. Aber je enger sich Mann und Frau kommen, desto enger wird auch der Raum um sie herum. Sie kommen sich näher, finden Interesse aneinander und geben sich einander schließlich hin. Was das alles bedeuten kann, sieht der Zuschauer in einzelnen Szenen, die so fließend ineinander übergehen, dass man glauben könnte einer Geschichte zu folgen. Man begibt sich auf eine Reise, wobei Flucht zu einem wichtigen Motiv wird, auf der von Wahnsinn und Gewalt bis zu Erotik alles dabei ist. Nähe und Vertrauen werden ebenfalls zu zentralen Motives des „Boléros“. Immer wieder ergeben sich neue Paare, immer wieder finden sich neue Grüppchen zusammen. Alleine tanzt hier niemand, außer einer Frau am Ende, für die die Wand ein unüberbrückbares Hindernis darstellt. Tänzerisch brilliert „Boléro“ auf ganzer Linie. Saubere Technik, schlichte Kostüme und ein einfaches Bühnenbild, lassen einzelnen Figuren der Tänzer genau den Fokus, den sie verdienen. Man möchte einen tiefen Atemzug nehmen und die Schönheit dieses Stückes geradezu einsaugen, musikalisch, wie auch tänzerisch.
Nach diesem fulminanten Einstieg sind die Erwartungen an „Le sacre du printemps“ hoch. Eine Flöte erklingt zart. Sie lässt nicht vermuten, was die nächsten 45 Minuten auf den Zuschauer zukommen wird. Und dann sind sie da: 36 Clowns. Schröder arbeitet in seiner Inszenierung nicht mit normal kostümierten Tänzern, er wandelt ein gängiges Karnevalskostüm um. Weiß und rot sind die Farben der Kleidung und der Maske, beides von Paul Zoller entworfen. Schnelligkeit und Igor Strawinskys erdrückende Musik machen dieses Stück nicht leicht erträglich. Ebenso die Unmengen an Nebel, die für fehlendes Sehvermögen und zumindest in den ersten Reihen für Atembeschwerden sorgen können. Auch in diesem Stück beeindruckt das Gewandhausorchester, die Tänzer aber an einigen Stellen nicht. Technisch hat auch „Le sacre du printemps“ seine tänzerischen Finessen, allerdings kann es die Ästhetik von „Boléro“ nicht aufrechterhalten. Eindrucksvoll bleibt jedoch die Szene, in der die Clowns einen weiteren Clown auf einem Podest ziehen. Ebenso prägend sind die angsteinflößenden Fratzen mancher Tänzer, die so nah an den Bühnenrand laufen, dass man Angst hat, sie würden einfach springen. Während man zu Beginn nicht genau weiß wohin die Reise geht, so ist gegen Ende klar, dass Schröder ein poetisches Motiv aufgreift, dass man so schon oft gesehen hat. Einer bricht aus, einer legt seine Maske ab, einer stellt sich gegen die große Masse. So zieht sich einer der Tänzer aus, schminkt sich ab und verlässt sie Bühne.
Nach gut eineinhalb Stunden endet dieser Ballettabend mit tosendem Applaus. Für Schröders Stück, leider nicht für Ingers „Boléro“. Und während man denkt man befindet sich in einer Schulaufführung, in der wildgewordene Eltern ihren Kindern zurufen, Blumen schmeißen und vollkommen eskalieren, denkt sich vielleicht der ein oder andere still: Applaus von Freunden, nicht von kritischen Gästen.
Weitere Aufführungen finden am 25.03., 08.04. und 17.06. in der Oper Leipzig statt.
Titelfoto: Ida Zenna / Oper Leipzig
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