Wer die Nachtigall stört
Illegale Open Airs sind ein fester Bestandteil der Leipziger EDM-Szene. Doch für die Freilufttanzenden wird es zunehmend schwieriger, geeignete Plätze für ihre Raves zu finden.
Im Dickicht der Bäume riecht die Mailuft besonders süß. Bunte Irrlichter bemalen Landschaft und Gesichter, das Grau der Nacht wandelt sich zu Regenbogen. Choreographiert wird das Farbenspiel von schweren Bässen, welche die DJs geschickt in die Herzen ihrer Zuhörer*innenschaft entsenden. Sobald die Nachtigallen ihren nächtlichen Liebesgesang anstimmen, beginnt für viele Leipziger*innen die Zeit heimlichen Ravens auf illegalen Open Airs.
Leipzig nimmt eine herausragende Stellung in der Geschichte der elektronischen Tanzmusik ein. Nach dem Mauerfall verfügte die Stadt über eine große Anzahl verlassener Industriebauten, die von der wachsenden Szene früh als ideale Veranstaltungsorte auserkoren wurden. Im Gegensatz zu den alten Bundesländern gab es Anfang der 90er Jahre kaum nennenswerte bürokratische Hürden für die Ausrichtung größerer Musikveranstaltungen – optimale Bedingungen also für musikalische Selbstverwirklichung fernab jeglicher Kommerzialisierung. Doch Zeiten ändern sich – und mit ihnen die Möglichkeiten des freien künstlerischen Ausdrucks. Viel gefeiert wird in der Messestadt aber nach wie vor. Gut Informierte können sich am Wochenende oft zwischen mehreren parallel stattfindenden Open Airs entscheiden – an „guten“ Tagen muss niemand aus seinem Kiez heraus. Wer es wagt, nachtblind durch dunkle Flur zu radeln, wird mit kitzelnden Bässen auf einer kleinen Waldlichtung belohnt. Getränke können an der auf Spendenbasis laufenden Bar erworben werden. Anschließend kann man sich zu etwa 400 Gleichgesinnten gesellen, die alle dem Ruf der Nachtigall folgten, um auf dem Waldboden im Takt zu tanzen.
Ein schwierigeres Unterfangen als auf anderen Open Airs, denn hier wird heute dem Mainstream kein Raum gegeben – auf Wunsch des Veranstalters Philipp, der eigentlich anders heißt: „Auf den meisten Open Airs, auf denen ich bisher war, läuft immer die gleiche Musik. Da wird Deep-House-Gedudel und ziemlich seichte elektronische Musik gespielt. Das wollten wir nicht unbedingt machen.“ Statt Deep House also Breakbeat und Trap.
„Das zieht natürlich ein spezielleres Publikum an“, weiß Philipp, der selbst schon des Öfteren hinter dem Mischpult stand. Dass damit die Besucher*innenzahl eher klein gehalten wird, kommt vor allem der Atmosphäre zu Gute: „Wenn Leute kommen, die aus meinem direkten oder erweiterten Umfeld sind, dann weiß ich einfach, dass es mit denen entspannt wird und dass sie keinen Stress machen.“
Vorzeigestadt Halle
Diese Einstellung teilt auch Leo, eine der Besucher*innen, die sich im Spannungsfeld von Bäumen und Technofans sichtlich wohl zu fühlen scheint. Lächelnd gibt sie zu, dass es für sie grundsätzlich keine Rolle spielt, ob eine Veranstaltung legal ist oder nicht. Jedoch schätze sie an illegalen Partys im Freien die geringe Besucher*innenzahl. „Auf Technopartys gilt folgende Regel: Je kommerzieller es ist, desto breiter ist das Publikum und desto unwohler fühle ich mich als Frau.“ Mit einem großen Schuss vom Wodka-Mate-Gemisch verabschiedet sie sich tänzelnd in die Menge. Das Konzept des entspannten Feierns scheint für sie an diesem Abend voll aufzugehen.
Obwohl illegale Raves bewusst kleingehalten werden und die Besucher*innenzahl selten höher als 400 ist, sind die Spuren der nächtlichen Ausschweifungen oft auch noch an den folgenden Tagen sichtbar: zum Verdruss von Umweltschützer*innen und dem Ordnungsamt. Jede vergessene Bierflasche und jeder Zigarettenstummel potenziert die Waldbrandgefahr, die im sonnigen Leipzig schnell unschöne Realität werden kann. Ein weiteres Problem sehen Kritiker*innen im Lautstärkepegel. Nicht nur Nachbar*innen, sondern auch geräuschempfindliche Wildtiere könnten durch die Musik und das zuckende Stroboskoplicht gestört werden.
Angesichts dieser Problematik kämpfen Leipziger Politiker*innen seit Jahren für legale Veranstaltungsorte in der Stadt. Der letzte Vorstoß kam im April vom Leipziger Jugendparlament, das mit dem Verweis auf Regelungen der Stadt Halle abermals an die Dringlichkeit der Angelegenheit erinnert. Dort können „spontane“ Veranstaltungen bis zu 24 Stunden vor Beginn bequem über ein Online-Formular angemeldet werden. Die Forderungen des Ordnungsamtes gegenüber den Veranstalter*innen halten sich dabei in Grenzen: Der Laustärkepegel muss unter 104 Dezibel gehalten und die Spuren bis 10 Uhr am Folgetag verschwunden sein. Auch auf jegliche Form von Kommerz muss verzichtet werden. Bedingungen, die durchaus umsetzbar erscheinen und von der Kompromissbereitschaft der Stadtverwaltung zeugen. Es kann allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Legalisierung einen bürokratischen Rattenschwanz nach sich ziehen würde. Zwangsläufig müssen Ausschanklizenzen verhandelt, die GEMA informiert und bezahlt werden – das Spontanitätskonzept besagter Veranstaltungen würde ad absurdum geführt.
Politischer Protest
Nun mögen illegale Open Airs nach außen wie Produkte einer hedonistischen, Ich-bezogenen Spaßgesellschaft wirken, sie können jedoch auch als Ausdruck politischen Protestes verstanden werden. So steht der heutige Rave ganz im Sinne einer antisexistischen und antirassistischen politischen Agenda. Philipp stellt klar: „Wir wollen, dass sich die Leute bei uns wohlfühlen. Wir dulden keine Diskriminierungen und versuchen dahingehend sehr aware zu sein.“ Letzteres stellt eines der größten Risiken dar, die eine Legalisierung der Veranstaltungen nach dem Hallenser Modell in sich trägt.
Veranstaltungen, die auf öffentlichen Plätzen stattfinden, sind nun einmal kein Geheimtipp mehr und bergen das Potential auch „unerwünschtes“ Publikum anzuziehen. Typischen Begleiterscheinungen von Massenveranstaltungen wie Schlägereien, sexuelle Gewalt, Vandalismus und Diebstahl wird durch unbegrenzte öffentliche Zugänglichkeit tendenziell mehr Raum gegeben. So werden also genau die Probleme potenziert, denen man bei illegalen Raves grundsätzlich aus dem Weg gehen möchte. Dass es aber wichtig ist, „safe spaces“, also geschützte Räume für marginalisierte Gruppen zu schaffen und dass deren Existenzmöglichkeit im direkten Zusammenhang mit der Besucher*innengröße steht, betont Leo einmal mehr: „Auf illegalen Open Airs fühle ich mich sehr wohl, da hier einfach keine Baggerkultur zugelassen wird.“
Die positiven Vibes sind den ganzen Abend über zu spüren. Sie zeigen sich im sanften Lächeln der Tanzenden und im leisen Rascheln der Füße, die im Dickicht verschwinden. An diesem Abend müssen keine Streitereien geschlichtet werden.
Das Thema illegale Open Airs indes könnte sich bald von selbst auflösen. Denn die Leipziger Stadtentwicklung bereitet den Veranstalter*innen Kopfzerbrechen: „Das Planen solcher Veranstaltungen wird auf jeden Fall immer schwieriger“, fasst Philipp zusammen. „Dieser Ort, an dem wir jetzt waren, den wird es wahrscheinlich in ein paar Monaten beziehungsweise bis zum Ende des Jahres nicht mehr geben. Eine Baustelle ist in der Nähe und irgendwann wohnen dort Leute.“
So lange sich jedoch die Leipziger*innen täglich des Baustellenlärmes erfreuen können, wird es wohl auch weiterhin Freiluftfeiern geben. Dabei zeigt sich Philipp durchaus kooperativ für die Zukunft: „Ich finde es wichtig, dass man auf Sicherheit achtet. Vor allem die Brandgefahr sollte man nicht vergessen. Das Aufräumen am Ende ist uns auch sehr wichtig, denn wir wollen das Gelände einigermaßen sauber hinterlassen.“
Trotz dieser Zugeständnisse bleibt das Problem des Lärmschutzes weiterhin bestehen. Obwohl menschliche Nachbar*innen oft verschont bleiben, da Open Airs aus existenziellem Interesse eher selten in unmittelbarer Nähe von Wohngebieten stattfinden, können die Waldtiere nicht zum Telefonhörer greifen. So lange also die Entwicklung von Geräuschdämpfern noch in den Kinderschuhen steckt, müssen Veranstalter*innen das Recht der Nachtigall auf das Singen ihrer Liebeslieder akzeptieren. In einer idealen Welt würden Mensch und Tier wohl als Duett erklingen.
Artikelfoto: Moritz Münch
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