Zwei Blickwinkel der Forschung
Der Urstreit zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden ist längst beigelegt, dennoch folgen sie komplett unterschiedlichen Logiken. Zwei Professoren der Uni Leipzig im Interview.
Monika Wohlrab-Sahr, Professorin für Kultursoziologie an der Universität Leipzig, forscht seit Jahrzehnten qualitativ. Soziologieprofessor Roger Berger arbeitet mit quantitativen Methoden. student!-Redakteure Luise Mosig und Conrad Meißner sprachen mit ihnen über die Relevanz beider Ansätze.
student!: Wodurch zeichnen sich qualitative und quantitative Methoden jeweils aus?
Wohlrab-Sahr: Die Grundannahme der qualitativen Forschung ist, dass es eine soziale Wirklichkeit gibt, die in sich schon eine interpretierte, sinnhaft strukturierte Wirklichkeit ist. Ziel ist es, diese zu rekonstruieren. Dazu fertigt man eine analytische Interpretation an. Es geht nicht nur um das Nacherzählen, sondern um die Deutung auf einer theoretischen Ebene. Deshalb ist qualitative Forschung ein wissenschaftlich-methodischer Zugang. Die Rekonstruktion kann man in Schritten beschreiben, man kann sie erlernen und prüfen. Das heißt aber auch, dass nicht jedes Erkenntnisinteresse dafür geeignet ist, qualitativ erforscht zu werden. Einige Fragestellungen, die Interesse an generalisierbaren Aussagen eines bestimmten Typus haben, bedürfen der quantitativen Methoden. Ich sehe die Methoden deshalb nicht in Konkurrenz miteinander, weil sie sich um verschiedene Dinge bemühen. Im Wissenschaftsverständnis sollte den verschiedenen Zugängen ein Recht zugestanden werden – immer in Bewusstsein dessen, dass beide ihre eigene Forschungslogik haben.
Berger: Man könnte so weit gehen und sagen, dass es zwei verschiedene Weltanschauungen sind. Das bedarf keiner Diskussion – meiner Meinung nach kann man darüber auch gar keine sinnvolle wissenschaftliche Diskussion führen.
Es kommt oft in Berufungskommissionen vor, dass Forscher gefordert werden, die „beides“ können. Dann bekommt man entweder jemanden, der es nicht kann – oder eben niemanden. Das ist vergleichbar mit einem guten Gehirnchirurgen, der Innere Medizin auch noch beherrscht. Das gibt es heutzutage nicht mehr, das liegt an einem Zeitproblem. Man kann nicht beide Methoden gleich gut beherrschen. Alle Wissenschaftler, die ich kenne, haben einen ganz klaren Schwerpunkt.
Die quantitativen Methoden gehen von einem realistischen Weltbild aus; Objektivität, Reliabilität und Validität werden stark betont. Wichtig ist, dass die Erkenntnisse komplett unabhängig vom Forscher und reproduzierbar sein sollen. Heutzutage spielt auch ein realistisches Kausalitätsverständis eine Rolle, das davon ausgeht, dass Kausalitäten auch in der sozialen Welt wirken. Der Ausgangspunkt ist immer ein hypothetischer Realismus. In den Sozialwissenschaften liegt der große Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Methoden in der Reaktivität, denn es wird eine belebte Welt betrachtet. Im Gegensatz zu einer Kugel, die von einem Turm geworfen wird, reagiert das Untersuchungsobjekt Mensch in den Sozialwissenschaften auf den Forscher. Damit muss man irgendwie umgehen.
Wohlrab-Sahr: Das Stichwort „Reaktivität“ markiert einen deutlichen Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Forschung. Es ist ein charakteristischer Ausdruck einer ganz bestimmten Forschungshaltung, bei der man versucht, Einflüsse mithilfe eines möglichst neutralen Instruments auszuschalten. In den qualitativen Methoden schaffen wir dagegen ein Setting, in dem wir möglichst viel von der Wirklichkeit, wie sie sich in alltäglichen Situationen zeigt, zu sehen bekommen. Das Stichwort hier ist Selbstläufigkeit. In einem narrativen Interview beispielsweise sollte sich die interviewte Person so tief in die Vergangenheit hineinbegeben, dass sich ihre Erzählungen so stark wie möglich der wirklichen Erfahrung annähern. Man muss sich aber immer bewusst sein, dass man die strukturierte Wirklichkeit nicht Eins zu Eins abbilden kann.
Wie können die wissenschaftlichen Gütekriterien dann in der qualitativen Forschung erfüllt werden?
Wohlrab-Sahr: In der qualitativen Forschung gibt es bezüglich dieser Problemstellung unterschiedliche Schulen. Eine Seite lehnt diese Kriterien völlig von sich und bezeichnet sie als solche, die nur für die quantitative Forschung relevant sind. Ich schließe mich der zweiten Schule an: Natürlich sind Reliabilität und Validität relevant für uns, man muss sie nur anders verstehen. Wenn es mir als Forscherin gelingt, ein Setting herzustellen, in dem sich Selbstläufigkeit beim Interviewten einstellt – beispielsweise durch einen bestimmten Stimulus – dann kann ich diesen Stimulus an einer anderen Stelle wieder setzen. Dadurch werden sich dieselben Erfahrungsmuster abbilden. Somit habe ich auch in den quantitativen Methoden ein reliables Instrument, auch wenn es nicht dieselbe Reliabilität ist wie in der quantitativen Forschung. Es ist schlichtweg eine andere Umsetzung.
In letzter Zeit ist es in der Sozialforschung sehr beliebt geworden, sogenannte Mixed Methods anzuwenden. Dabei werden quantitative und qualitativer Methoden in verschiedensten Arten kombiniert. Wie ist das zu bewerten?
Berger: Oft wird behauptet, dass Mixed-Methods-Ansätze sehr gefragt seien. Dahinter steckt meiner Meinung nach ein ideologischer Anspruch, so nach dem Motto: „Wir wollen niemanden ausschließen, bunt ist immer toll.“ Dem würde ich nicht folgen. Es gibt bestimmte Erkenntnisinteressen, die zwingend entweder qualitativ oder quantitativ erforscht werden müssen – Mixed Methods sind hier nicht notwendig. Als „Mixed Methods“ deklarierte Forschungsprojekte sind oft Gruppenarbeiten, in denen die Aufgaben klar verteilt sind. Das gab es schon immer, früher hat man diesen Begriff einfach nicht verwendet.
Wohlrab-Sahr: Es ist auf jeden Fall eine Mode. In größeren Forschungsprojekten mit genügend personalen Ressourcen mag es Sinn machen, die Methoden zu kombinieren. Das kann eine qualitative Vorstudie für einen Survey sein, aber auch eine detaillierte qualitative Untersuchung, die sich an einen Survey anschließt. Kombiniert nur eine Person die unterschiedlichen Ansätze, kann ich mir schwer vorstellen, dass die Qualität der Forschung dadurch verbessert wird.
Berger: Der Begriff „Mixed Methods“ wird wie der Begriff „Big Data“ gerne mal in den Raum geworfen, ohne dass ersichtlich wird, was genau damit gemeint ist. In Exzellenzanträgen der Uni heißt es gerne mal: „Wir beschäftigen uns mit Big Data.“ Aber was soll das überhaupt sein, was ist das Erkenntnisinteresse? Auch in studentischen Arbeiten merkt man oft, dass zum Ende ein paar trendige Schlüsselwörter untergejubelt werden, um mangelndes Know-How auszugleichen.
Wohlrab-Sahr: Das Problem liegt darin, dass es in den Sozialwissenschaften oft an einer soliden Grundausbildung fehlt. Bevor Studierende eine Forschungsrichtung einschlagen, müssen sie lernen, was qualitative und quantitative Herangehensweisen unterscheidet. Erst dann sind sie dazu imstande, eine Entscheidung zu treffen. Auch der Wissenschaftsrat hat empfohlen, dass die qualitative Methodenausbildung, die an vielen Hochschulen zu kurz kommt, professionalisiert wird.
Sind sie sich, an Ihre eigene Studienzeit zurückdenkend, einiger Faktoren bewusst, die das Einschlagen Ihrer jeweiligen Forschungsrichtung beeinflusst haben könnten? Beispielsweise, was Ihre politische Sozialisation und die damaligen gesellschaftlichen Umstände angeht?
Berger: Ich habe mich das schon oft gefragt. Ich vermute, dass das Einschlagen einer bestimmten Forschungsrichtung psychologische Gründe hat. Unser Soziologie-Master beispielsweise ist extrem quantitativ ausgelegt und statistisch höchst anspruchsvoll. Und trotzdem kenne ich Studierende, die danach in die qualitative Richtung gegangen sind. Das kann nicht an der Sozialisation liegen. Das ist etwas, was ganz tief drin in uns schlummert.
Wohlrab-Sahr: Wissenschaftsbiografisch war es bei mir so, dass ich während meines Soziologiestudiums eher zufällig an einem Industriesoziologie-Seminar teilnahm, aus dem ein längeres Forschungsprojekt wurde. Dort bin ich dann hängengeblieben. Ich habe zuvor Theologie studiert und wollte ursprünglich danach mein Vikariat absolvieren. Aber durch das Soziologieseminar habe ich gelernt, Interviews zu führen und zu interpretieren. Wir sind nach Frankfurt zu Oevermann gefahren, zu Fritz Schütze nach Magdeburg, Bruno Hildenbrand war bei uns – so bin ich bei Leuten in die Lehre gegangen, die die damalige qualitative Szene prägten. Die Entscheidung für die qualitative Forschung war bei mir, wenn man so will, eine Mischung aus Zufall und politischem Interesse. Sie war aber auch in meiner Persönlichkeit begründet, weil mich das Interpretieren schon immer interessiert hat.
Sie haben anfangs die Unterschiede qualitativer und quantitativer Methoden aufgezeigt. Wo aber liegen die Schnittmengen?
Wohlrab-Sahr: Eine wichtige Schnittmenge liegt in der Methodisierung und der Reflexion durch Gütekriterien. Versteht man die qualitative Forschung als Methode, die sich über ihr Vorgehen, dessen Implikationen und über Gütekriterien Gedanken macht, dann hat sie eine beträchtliche Schnittfläche mit qualitativer Forschung. Das Tischtuch ist dann zerschnitten, wenn die quantitativen Vertreter per se der qualitativen Forschung die Methodizität absprechen. Dann ist auch kein Gespräch mehr möglich. Eine gemeinsame Grundlage entsteht, wenn das Verständnis da ist, dass sich die Gütekriterien jeweils um dasselbe Anliegen bemühen, aber unterschiedlich zu fassen sind. Wo es angemessen ist und wo man genügend Personal hat, kann es unter dieser Bedingung auch zu einer Kombination der Methoden kommen.
Wo liegen die Gefahren, die potentiellen Fehler beider Forschungsansätze?
Berger: Wenn man seriös und methodisch reflektiert forscht, wird man mit der Zeit extrem vorsichtig. Je mehr Experimente ich mache – und das ist der Goldstandard für Kausalität – desto rückhaltender werde ich darin, bestimmte politische Interventionen zu fordern. Man kann so viele Fehler machen und sich der Erkenntnis deshalb nie sicher sein. Problematisch wird es, wenn man von Anfang an einen inhaltlichen Anspruch hat und diesen im Nachhinein nach außen vehement verteidigt. Nach meiner Erfahrung kommt das häufiger in der qualitativen Forschung vor.
Wohlrab-Sahr: Politisierung ist auf beiden Forschungsseiten ein Problem. Auch mit statistischen Ergebnissen, die man letztendlich nicht überprüft, kann eine politische Indoktrination stattfinden. Zurückzuführen ist sowas immer auf methodische Fehler. Die größte Gefahr auf der qualtitativen Seite liegt in der Pseudoquantifizierung der Studien. Das beginnt dort, wo man eine Fragestellung stellt, die eigentlich quantitative Methoden bedarf. Das Ergebnis sind Aussagen, die natürlich überhaupt nicht von den Daten gedeckt und somit falsch sind. Das Schlimmste dabei: Interessantes Material wird nicht ausgeschöpft, weil es in eine quantitative Logik vergewaltigt wird, die der Sache gar nicht angemessen ist. Eine weitere Gefahr in der qualitativen Forschung liegt in einer bloßen nacherzählenden Zusammenfassung anstatt einer Interpretation.
Berger: In quantitativen Verfahren ist es extrem einfach, statistische Fehlschlüsse zu ziehen. Sobald man irgendwelche Daten hat, kann man sie in kommerziell ausgelegte Auswertungsprogramme eingeben, die immer irgendetwas auswerfen. Wenn man einem Journalisten dann diese Zahlen vorlegt, wird er nie nachvollziehen können, wie sie entstanden sind.
Fotos: Annika Seiferlein
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