Nur ein Schaufelblättchen im Turbinentriebwerk
Kolumnistin Luise ist seltene, aber regelmäßige Kundin der Billigairlines. Anstatt mit Ryanair & Co. in benachbarte europäische Metropolen zu fliegen, kann man sich auch selbst ans Steuer setzen.
Sommer heißt Reisezeit heißt Lesezeit. Zeit, sich einem guten Buch zu widmen, in Ruhe und ohne schlechtes Gewissen Kreuzworträtsel zu lösen und sich endlich mal mehr als den „Hohlspiegel“ und die „Hausmitteilung“ im SPIEGEL zu Gemüte zu führen. So decke ich mich am Reiseantrittstags meines Urlaubs – getrieben von Euphorie und dem idealistischen Gedanken, durch meinen Großeinkauf Print vielleicht doch noch retten zu können – mit einem Stapel Lektüre ein.
Gierig verschlinge ich die SPIEGEL-Titelgeschichte: „Das verlorene Paradies – Wie der Reisende zerstört, was er liebt“. Sie handelt davon, wie die Bürger Roms im Sommer verzweifelt die Stadt verlassen, um vor den einfallenden Touristenscharen zu fliehen, die sich dann am Trevi-Brunnen um den besten Selfie-Spot prügeln. Davon, wie die Stadt Amsterdam den Bau neuer Hotels verboten hat und „Crowd Manager“ und „Traffic Controller“ beschäftigt, um den Menschenmassen irgendwie Herr zu werden. Und sie handelt natürlich davon, wie der postmaterielle Reisewahn auf dem Rücken der Beschäftigten der Billigairlines ausgetragen wird. Ist schon verrückt, dass ein Kurztrip nach London mittlerweile genauso viel kostet wie ein Kinobesuch, grüble ich vor mich hin. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und schüttele innerlich den Kopf. Dass ein Ryanair-Pilot unter miserablen Arbeitsbedingungen schuften muss, damit die europäische Mittelschicht ihren All-Inclusive-Cocktail im Billighotel auf Malle schlürfen kann. Die Wolken ziehen an mir vorbei. Unverantwortlich, dieser moderne Massentourismus.
Blöd nur, dass ich gerade in einem Ryanair-Flieger nach Riga sitze, der mich knapp 50 Euro gekostet hat. Und das auch nur, weil ich extra Aufgabegepäck dazu gebucht habe. Erwischt. Ich schlucke kurz und drehe mich dann genervt weg, weil mir eine ebenso genervte Flugbegleiterin zum zweiten Mal in anderthalb Stunden Versace-Parfüm andrehen will.
Zwei Wochen später sitze ich mit der versammelten Familie im elterlichen Wohnzimmer; wir essen Pizza und schauen uns die Urlaubsfotos an. Estland begeistert mit seinen Hochmooren und mittelalterlichen Städten, Lettland mit seinen Burgen und Seen, Litauen mit der Kurischen Nehrung, seinem Pilz- und Beerenreichtum. In der Dzukija, einem Nationalpark an der Grenze zu Polen, haben wir tolle Wanderungen unternommen, erzähle ich. In einem abgelegenem Dorf trafen wir mit unserem Mietwagen aus Riga plötzlich auf mehrere deutsche Autos mit einem „L“ am Kennzeichen – Leipziger! Mitten im litauischen Wald! „Warum seid ihr eigentlich nicht selbst mit dem Auto da hoch gefahren?“, merkt mein Vater an.
Und genau da liegt der Knackpunkt. Wer der Ausbeutung von Mensch und Natur entgegenwirken will, der sollte sich bei jeder Flugbuchung genau überlegen, ob die wirklich notwendig ist. Es erwartet niemand von mir, zuhause auf dem Sofa meinen Sommer zu verbringen. Und, klar, es ist in Anbetracht der Milliarden Flugpassagiere pro Jahr ein Tropfen auf den heißen Stein, den einen Flug im Jahr wegzulassen und stattdessen auf PKW, Zug oder Bus zurückzugreifen. Wir sind alle doch nur ein kleines Rädchen im Getriebe, ein Schaufelblättchen im Turbinentriebwerk. Oftmals kosten diese alternativen Reisemöglichkeiten nicht mehr Geld, sondern vor allem ein sehr kostbares Gut: mehr Zeit. Wenn man nur eine Woche Urlaub hat und ferne Kulturen kennenlernen will, dann ist das Fliegen die einzige Option. Ich als Studentin aber bin reich an Zeit und sollte diesen Reichtum in vollen Zügen genießen. Immer nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel. Und von letzterem gibt es unzählige in Europa, die bisher von mir unbereist und gut mit dem Auto zu erreichen sind. Ich habe zwar schon Gletscher in Patagonien bewandert und Vulkane in Indonesien bestiegen, aber die Alpen kenne ich nur von oben – als ich vor zwei Sommern mal wieder in einem Billigflieger nach Italien saß.
Nächste Woche geht es für mich mit einem Kumpel nach Südosteuropa. Wir wollen uns Kroatien, Bosnien, Montenegro und Albanien anschauen, vielleicht auch den Kosovo – mal sehen, wo es uns hintreibt – mit dem Dacia Logan meiner Eltern.
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