Reisereihe: Ein Besuch alten Zuhauses
Reisen ist wie Fernsehen nur in echt. Immer weiter und exotischer werden die Ziele, doch auch ein Ort wie London kann im Blick zurück sehr spannend sein. Ein Reisebericht der etwas anderen Art.
Wenn ich vor dem British Museum in Bloomsbury, London stehe, sehe ich nicht das, was die meisten Touristen hier sehen. Ich sehe zwar auch die weiß-grauen imposanten Säulen und Steine, die Löwen, die den Hintereingang bewachen. Doch eigentlich kommen mir die zehn Monate vor Augen, die ich 200 Meter hiervon entfernt lebend verbrachte und welche mein Schülerleben vom Erwachsenendasein trennten.
London war für mich der erste Ort eines selbständigen Lebens, wenn man es so nennen kann, denn die Versorgungspakete von Mama zuhause in Baden und den Großeltern im Schwarzwald und Ruhrgebiet waren essentiell.
Nach dem Abitur bewarb auch ich mich für einen Freiwilligendienst. Doch nicht in Peru, Tansania oder Australien, wie es sich zu gehören schien, sondern in Großbritannien. Auch wenn der kulturelle Sprung nicht überaus weit war, reizte mich die englische Sprache und das Leben auf der Insel. In Tagen, in denen sich die Briten rudernd vom EU-Festland entfernen, ein umso präsenterer Gedanke.
Wie ich in meinem ersten Rundbrief nach Deutschland schrieb, war das Projekt völlig offen und hätte mich durchaus auf die Shetland-Inseln führen können, wo ich auf betrunkene Schäfer beim Schafe hüten aufpassen müsste. Doch der Kulturschock verhielt sich umgekehrt. Statt Holzhütte am tosenden Meer Studentenwohnheim im menschendurchströmten Zentrallondon, eine der teuersten Wohngegenden Europas.
Ich fand Freunde, die auch über die Distanz mehr oder minder hielten, Orte, die einem lieb und teuer wurden und somit Gründe, kurzzeitig an die alte Wirkungsstätte zurückzukehren.
Nun bin ich zum vierten Mal zu Besuch in London. Ein Gast am Ort erster Unabhängigkeit. Damals half ich einem körperlich eingeschränkten Studenten des University College London bei allerlei Dingen wie FIFA spielen, Cafés aufsuchen und Doctor Who durchstehen. Im Umherstreunen lernte ich die Stadt so gut kennen, dass sich deutsche Freunde heute noch über meinen schnellen Schritt echauffieren und ich das zentrale London nördlich der Themse wie die Tasche meiner Weste kenne, welche ich mir trotz Kleidungsstilanpassung in London nie anschaffte. Das Budget war klein und Tee das zentrale Objekt meines Konsumverhaltens, sodass ich mich auf die wesentlichen Dinge limitierte. Dieses Leben spiegelt sich bis heute in meinem dortigen Besuchsverhalten wider. In der Umgebung um die Universität herum kenne ich fast jeden Coffee Place, wie die Engländer ihre Cafés lieblos nennen, so wie sie es auch mit Schnitzels und Chocolate Pains halten, obwohl sie einige dieser Lokalitäten zu bieten haben.
Ich weiß, wo man für 1,70 Pfund einen akzeptablen Cappuccino bekommt, mit dem man sich in den Regent’s Park setzen kann, weiß wo man beim Kauf eines Croissants kostenlos einen dazubekommt, weiß, wo mitten in SoHo ein exquisiter Espresso für ein Pfund zu ergattern ist und kenne das Café, das sich unterirdisch in einer umgebauten viktorianischen Toilette befindet. Kurzum, mein Koffeinblutgehalt geht beim Spaziergang durch die alten Straßen an seine Grenzen, sodass ich meine Lieblingsteeläden voller Energie stürme, meine bemitleidenswerte Kreditkarte zücke und nehme, was ich tragen kann.
Meine Besuche in der englischen Hauptstadt sind denkbar unspektakulär. Ja, man kann über 20 herausragende Museen völlig kostenlos besuchen, die Schönheit englischer Parks bewundern und dümmlich mit den Händen einem großen Haus beim St. James’s Park zuwedeln, in dem angeblich eine Familie blauen Blutes ihre Zeit verbringt – ein abwegiger Gedanke, bei der Vielzahl deutlich schönerer und abgelegener Schlösser, die die Familie besitzt. Das tue ich auch, doch ist dies für mich nicht mehr ein annähernd ausreichender Grund, London zu besuchen.
Mit meinem ersten Besuch einige Jahre zuvor ergoss sich all der Charme und Stolz der Stadt, welche sie ohne Zweifel hat, über mich. Nach der ersten Woche Leben, saugte ich aber den letzten Tropfen heraus, sodass ich versuchen musste, unter die Oberfläche zu blicken. Ich muss sagen, London ist eine Stadt weniger Erhebungen, aber von großer Oberfläche. Manche Viertel, meist nahe der Themse gelegen, wurden nicht dem Leben sondern der Arbeit geschaffen. Die Nacht bringt dort die Stille und das Tote hervor. Eine Beobachtung, die ich auch in meinem Viertel Bloomsbury machen musste. Was also unter der Oberfläche lag und das Leben lebbar machte, waren die Feinheiten, die Übergänge zwischen Luxusgegend und Sozialbauplatte, der 1-Pfund-Beigel (wie er klassisch geschrieben wird), der 50-Penny Kaffee[1], das Kartenschreiben im Park, das bewusste Verlaufen und Entdecken englischer wahrer Kultur namens Snakebite und string cheese, die Momente mit Freunden in den Straßen, beim Pubquiz, dem Spazieren, Teetrinken und Kuchenbacken, die von außen in einer Stadt wie London nach nicht viel aussehen, aber alles bedeuten. Zusammengefasst ist es das, weswegen ich Jahr für Jahr in diese massentouristische Stadt zurückkehre und mir die Straßen mit jenen Touristen teile, die ich damals verabscheute und derer ich heute wieder zugehörig bin.
[1] Alleine die Verwendung derartig vieler Geldbeträge in einem solchen Text zeugt vom Charakter Londons
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