Eine Nacht in der Notaufnahme
Beruflicher Alltag zwischen Leben und Tod - Redakteur Rewert durfte eine Oberärztin des Leipziger Uniklinikums begleiten.
Der Mann ist tot. Eine Pflegerin zieht eine weiße Decke über den massigen, bleichen Körper. Im gesamten Schockraum liegen noch medizinisches Gerät und Blutkonserven, im Mund der Leiche steckt ein kleiner Plastikstab. Am Rand steht das Team und bespricht die missglückte Reanimation. „Das Rea-Team hätte zur Station kommen müssen“, sagt einer der Ärzte wütend.
Der verstorbene Mittfünfziger hatte schon vor einiger Zeit einen Motorradunfall und lag deshalb bereits im Universitätsklinikum. Er entwickelte plötzlich Atemnot, verlor kurze Zeit später sein Bewusstsein und musste im Schockraum der Zentralen Notaufnahme (ZNA) reanimiert werden. Normalerweise hätte der Mann von einem Reanimationsteam auf der Station behandelt werden können, doch heute wurde er ausnahmsweise in die Notaufnahme gebracht. Hier versuchte das Team zwei Stunden lang, ihn zurück ins Leben zu holen – schlussendlich erfolglos. Vermutlich starb der Mann jetzt an einer besonders schweren Lungenembolie. Wichtige Zeit wurde verschenkt und das ärgert an diesem Abend alle hier. Jetzt wird über der Leiche evaluiert, was schlecht gelaufen ist, was das nächste Mal anders gemacht werden muss. Der Tod wird zum kurzen beruflichen Rückschlag.
Die Oberärztin, Dr. Alexandra Ramshorn-Zimmer, geht zurück zu ihrem Platz und greift sofort zum Telefon. Sie muss sich darum kümmern, dass die Patienten, die schon versorgt sind, auf die Station kommen, um Platz für eventuelle Notfälle zu machen. Auf ihrer weißen Jeans ist ein Blutstropfen: das Einzige, was in dieser professionellen Eile noch an die fehlgeschlagene Reanimation vor wenigen Minuten erinnert.
Farbzuteilung
Ramshorn-Zimmer arbeitet an diesem Freitagabend schon seit einiger Zeit und wird die ganze Nacht in der Notaufnahme sein. Heute hat sie nur eine 16-Stunden-Schicht, normalerweise ist sie 24 Stunden am Stück im Dienst. Eigentlich sollte sie während einer solchen Schicht ein wenig schlafen, doch oft kommt sie dazu nicht. Ramshorn-Zimmer ist eine der fünf Oberärzte, die aktuell in der Notaufnahme des Uniklinikums in Leipzig arbeiten. Unterstützt wird sie heute von drei Assistenzärzten und einem großen Team von Pflegekräften. In der Uniklinik arbeiten insgesamt 700 Ärztinnen und Ärzte und etwa 1.700 Pflegekräfte, davon 40 in der ZNA. Pro Jahr behandelt allein das medizinische Personal in der Notaufnahme 32.000 Patienten.
Die ZNA ist jeden Tag im Jahr rund um die Uhr besetzt. Niemand, der hierhin kommt, wird abgewiesen. Sobald sich ein Patient an der Rezeption meldet, beginnt die sogenannte Triage. Das bedeutet, dass die diensthabende Pflegekraft einschätzt, welche Behandlungspriorität ein Patient erhält. Jedem Patienten wird hierzu eine Farbe zugewiesen. Die fünfstufige Farbpalette reicht von rot („high urgency“) bis grün und blau. Die beiden untersten Farbkategorien werden Menschen zugewiesen, die mit hausärztlichen Problemen zur Notaufnahme kommen. Diese Patienten können eine Wartezeit von mindestens zwei Stunden einplanen – akute Notfälle, die rot gekennzeichnet wurden, werden sofort behandelt.
Ein Großteil der Patienten meldet sich jedoch gar nicht an der Rezeption, sondern kommt mit dem Rettungsdienst. Alle, die mit einem der 80 Rettungswägen im Stadtgebiet zur ZNA kommen, werden rot markiert und somit auch sofort aufgenommen. „Wir gehen davon aus, dass jemand, der den Rettungsdienst verständigt, auch schwer krank ist. Das ist aber nicht immer so“, berichtet Ramshorn-Zimmer. Teilweise werde der Rettungsdienst auch als Taxi missbraucht oder die Leute würden einfach zur Notaufnahme kommen, weil sie nicht auf einen Termin beim Hausarzt warten wollen.
Doch auch aus anderen Gründen nimmt die Zahl der Notfallpatienten jedes Jahr zu. Der demografische Wandel wird vor allem in der Notaufnahme sichtbar. Die zunehmend älteren Patienten sind zudem immer „multimorbider“, wie es die Oberärztin ausdrückt. Was schlicht bedeutet, dass sie unter vielen Erkrankungen gleichzeitig leiden und aufgrund der komplexen Behandlungen immer häufiger in die Notaufnahme kommen.
Auch einen zweiten statistischen Trend erleben die ZNA-Mitarbeiter unmittelbar: die zunehmende finanzielle Schieflage vieler Personen. Ramshorn-Zimmer sieht an ihrem Arbeitsplatz, dass Armut und Obdachlosigkeit in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Deutschland zugenommen haben. Ebenso würden immer mehr Drogenkonsumenten und Opfer häuslicher Gewalt in die Notaufnahme kommen. „Die Gesellschaft spiegelt sich da vorne wieder“, stellt Ramshorn-Zimmer fest, während sie in Richtung Notaufnahme zeigt.
Das Herzstück der Notaufnahme
Es dauert nicht lange, bis der Schockraum wieder gebraucht wird. Eine 21-jährige Frau wurde auf dem Fahrrad von einer Straßenbahn erfasst, trug keinen Helm und war kurz bewusstlos. Es stehen nun acht Leute um sie herum, jeder hat einen festen Platz, der durch einen farbigen Punkt auf dem Boden markiert ist. Die Frau schluchzt laut, trägt schon eine Halskrause, ist aber nicht desorientiert und scheint nur leicht verletzt zu sein.
Die beiden Schockräume sind das Herzstück der Notaufnahme. Hier kommen die Patienten hin, die einen Unfall erlitten haben, schwer verletzt sind oder reanimiert werden müssen. Medizinisch-materiell ist der Raum mit allem ausgestattet, was denkbar ist: mehrere Beatmungsgeräte, Defibrillatoren, Infusionsgeräte und ein Depot von Null-Negativ-Blutkonserven, die Blutgruppe, die mit allen anderen kompatibel ist. Jede Schockraum-Behandlung läuft nach einem strikten Schema ab, das bestenfalls nur wenige Minuten dauert, denn hier zählt jede Sekunde.
Medizinische Allrounder
Obwohl im Laufe der Nacht immer mehr Patienten eingeliefert werden, teilweise mit schweren Verletzungen, ist heute ein „ziemlich ruhiger Dienst“, meint eine Pflegerin. Es kommen all die typischen Patienten, allerdings in einer relativ geringen Anzahl. Ein Alkoholiker, der einen Schlaganfall erlitten hat, ein desorientierter Mann, der vor dem Hauptbahnhof zusammengebrochen ist und auch eine junge Frau, die von ihrem Ehemann verprügelt wurde.
Da so viele unterschiedliche Patienten in die Notaufnahme kommen, bräuchte es eigentlich eine andere Ausbildung für die Ärzte, die hier arbeiten. In England und den USA gibt es bereits die Möglichkeit, sich zum „Emergency Specialist“ ausbilden zu lassen. In Deutschland ist dies noch nicht sehr verbreitet. Nach dem Medizinstudium macht man hierzulande eine Ausbildung zum Facharzt und spezialisiert sich so immer weiter. Für die Arbeit in der Notaufnahme bräuchte man allerdings Ärzte, die sich interdisziplinär mit allen Krankheitsbildern auskennen.
In der Leipziger Uniklinik gibt es die Möglichkeit, sich zum Notfallmediziner weiterbilden zu lassen – ein Projekt, das der ärztliche Leiter der Notaufnahme, André Gries, maßgeblich voran trieb. Dieses Jahr haben die Delegierten auf dem Ärztetag in Erfurt beschlossen, dass es in Zukunft flächendeckend die Zusatzweiterbildung zum Notfallmediziner geben soll. Statt hochspezialisierter Internisten und Chirurgen sollen Allrounder eingesetzt werden, die speziell auf die Arbeit in der Notaufnahme vorbereitet sind.
Den Aspekt der abwechslungsreichen Teamarbeit hebt auch Ramshorn-Zimmer hervor, wenn man sie fragt, warum sie sich den Stress und die 24-Stunden-Schichten überhaupt antut, wenn sie doch genauso gut eine Hausarztpraxis hätte aufmachen können: „Ärzte, Pfleger und der Rettungsdienst arbeiten extrem eng zusammen. Da kracht es auch manchmal. Aber dadurch haben wir eine unglaublich starke Gemeinschaft. Das macht die Arbeit für mich so wertvoll.“ In der Notaufnahme sehe und lerne man unglaublich viel, das mache ihr besonders Spaß. Trotzdem hätte sie in den 15 Jahren, in denen sie in der Notfall- und Intensivmedizin arbeitet, bestimmte Schicksale erlebt, die sie bis heute nicht vergessen kann. Das führe allerdings auch zu mehr Demut, wie Ramshorn-Zimmer anmerkt. „Man weiß umso mehr zu schätzen, dass man gesund ist und dass man eine Perspektive im Leben hat. Hier wird einem Tag für Tag vor Augen geführt, dass das nicht selbstverständlich ist. Das führt einfach dazu, dass man einen großen Respekt vor dem Leben hat.“ Ein paar Sekunden später klingelt wieder ihr Telefon. Der Rettungsdienst ist dran.
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