„Man ist auf den Mond gegangen“
Monika Wohlrab-Sahr ist Professorin an der Universität Leipzig und bezeichnet sich selbst als Arbeiterkind. Redakteurin Annika sprach mit ihr über ihr Elternhaus und ihre akademische Laufbahn.
Seit 1999 ist Monika Wohlrab-Sahr als Professorin an der Universität Leipzig tätig. Ihr Vater war gelernter Glasmaler und ihre Mutter arbeitete damals in einer Porzellanfabrik, zuletzt als Druckerin.
student!: Wie war Ihre Schulzeit und wann kam das Thema Studium für Sie auf?
Wohlrab-Sahr: Ich kam 1967 aufs Gymnasium, das war zunächst nicht vorgesehen in unserer Familie. Mein Vater hat gesagt: „Warum soll sie Abitur machen, studieren lassen können wir sie sowieso nicht.“ Er hatte die Vorstellung, dass ich „aufs Amt“ gehen sollte, etwa als Sekretärin in der Verwaltung. Ich hatte in der Grundschule aber gute Noten und die Lehrer sahen mich auf dem Gymnasium. Meine Mutter hat das dann gedeichselt: „Warten wir doch erstmal. Jetzt hat sie gute Noten. Soll sie erstmal aufs Gymnasium gehen und dann gucken wir mal.“ Das war politisch eine günstige Konstellation, die das auch befördert hat. Mit BAföG war es im Laufe des Gymnasiums dann auch kein Thema mehr, dass das Studium nicht infrage komme. Aber das oberste Ziel waren gute Noten, weil an denen alles hing. Meine Eltern konnten mich ja nicht wirklich unterstützen. Meine Mutter hat allerdings immer mit mir gelernt, hat mich Vokabeln abgefragt in Sprachen, die sie selbst nicht gesprochen hat. Mir war klar, dass ich mich da selber organisieren musste.
Sie haben Evangelische Theologie in Erlangen und Soziologie in Marburg studiert. Inwiefern hat Ihre Herkunft Sie in Ihrer akademischen Laufbahn beeinflusst?
Meine Studienwahl hat es nicht beeinflusst. Allerdings hatten Akademikerkinder akademische Vorbilder. Ich dagegen musste diese Vorbilder selber für mich erfinden. In der Schule schwebten mir als Beruf Journalismus, Sozialarbeit oder Theologie vor. Ich war in der Jugendarbeit in der Kirchengemeinde aktiv, und unser Religionsunterricht war ein Ort der Politisierung. Ich habe mich dann letztendlich dazu entschieden, Evangelische Theologie anzufangen, was aber mit meinen Eltern nichts zu tun hatte. Ich weiß aber noch, dass es im ersten Semester einen Kurs gab, in dem man seine Studienmotivation darlegen sollte. Ich habe mich mit einem großen Wecker gezeichnet, wollte sozusagen die Gesellschaft aufrütteln, sie für soziale, politische Themen sensibilisieren. Das wiederum hatte sicherlich etwas mit meinem Elternhaus zu tun, da meine Eltern immer die Sozialdemokraten gewählt haben, beide in der Gewerkschaft und mein Vater zudem Betriebsrat war. Im Laufe des Theologiestudiums gab es dann in Marburg ein Praxisprojekt Industriearbeit. Ich habe einen Sommer bei IBM gearbeitet und bin dann in die Gewerkschaft IG Metall eingetreten, der mein Vater angehörte. Und ich weiß noch, wie ich nach Hause gekommen bin und stolz erzählt habe, dass ich jetzt in die Gewerkschaft eingetreten bin. Mein Vater konnte damit überhaupt nichts anfangen. Es galt immer die Maxime: „Die Kinder sollen es mal besser haben.“ Und dann fällt der Tochter nichts anderes ein, als in die Gewerkschaft einzutreten. Das ist mir in dem Moment wahrscheinlich gar nicht so bewusst gewesen. Aber ich habe dann auch später meine Dissertation im Bereich Arbeitssoziologie über Zeitarbeiterinnen geschrieben und diese meiner Mutter gewidmet. Diese Themenwahl hatte ganz viel mit meinen Eltern zu tun. Später habe ich dann als Religionssoziologin gearbeitet und mein Interesse an diesen Fragen ist dann wieder verblasst. Aber diese erste Weichenstellung, auch Soziologie mit dem Schwerpunkt auf Industriesoziologie als zweites Fach zu studieren, war davon geprägt.
Hat es für Sie während des Studiums eine Rolle gespielt, dass Sie ein Arbeiterkind sind?
Also in der Uni nicht. Die Vergemeinschaftungen liefen über inhaltliche Interessen und in Form von Wohngemeinschaften. Ich erinnere mich aber an den Titel eines Buches über Arbeiterkinder an der Hochschule, das ich gelesen habe, der hieß „Ich gehöre irgendwie so nirgends hin“. Insofern weiß ich, dass es ein Thema war. Denn durch das Studium entsteht eine Riesendistanz zum Elternhaus. Man kommt nach Hause und kann eigentlich nicht erklären, was man macht. Als dann später Freunde von mir Kinder hatten, die studierten, habe ich oft mit einem gewissen Neid beobachtet, wie sie mit ihren Kindern in wissenschaftliche Gespräche eingestiegen sind, sich über deren Studium ausgetauscht oder deren Arbeiten gelesen haben. Diesen Neid, in dem Sinne „Das hatte ich nicht.“, konnte ich mir oft selbst nicht recht erklären. Erst später ist mir klar geworden, dass es mit diesem Abstand zu tun hat: Die eigene Beschäftigung bleibt für die Eltern ein böhmisches Dorf. Man kann sie nur an dem Status oder dem Erfolg teilhaben lassen – sodass sie stolz auf das eigene Kind sind, wie meine Mutter mir das auch gezeigt hat. Mein Vater ist noch vor meinem Soziologieabschluss gestorben und hat die ‘Früchte’ nicht mehr gesehen, aber meine Mutter konnte ich zu meiner Antrittsvorlesung in Leipzig einladen. Inhaltlich ist der Abstand jedoch nicht zu überbrücken: Man hat sich entfernt, man ist gewissermaßen auf den Mond gegangen. Von dort kann man zwar runterkommen und die Eltern besuchen, sie können einem aber nicht folgen. Das bin ich nie richtig losgeworden.
Haben Sie dann schon im Studium eine akademische Laufbahn angestrebt?
Überhaupt nicht. Auch während der ganzen Dissertationszeit noch nicht. Ich hätte es damals nicht gewagt, das so zu benennen. Vor der Promotion hatte ich die Idee, ins Vikariat zu gehen, um Industriepfarrerin zu werden. Als aus einem Forschungsseminar an der Uni in Marburg ein Projektantrag entstanden ist und das Projekt dann bewilligt worden ist, wollte der Projektleiter gerne, dass ich das mache, und ich war in Gedanken aber immer noch beim Vikariat. Letztendlich habe ich entschieden, das zu machen und dann war auch der Weg sozusagen gebahnt. Es gab eben ganz lange eine moralische Verbindung an meine soziale Herkunft. Erst nach der Dissertation wurde mir klar, dass ich mich jetzt auf Stellen an Universitäten bewerben würde. Bei der Bewerbung auf Stipendien habe ich lange als Berufsziel: „Wissenschaftlerin“ angegeben. „Professorin“ zu nennen kam mir irgendwie vermessen vor. Da war vielleicht auch der Sprung zu groß. . Andere Leute – Männer – haben mir erzählt, dass sie schon in der Schule oder im Studium wussten, dass sie Professoren werden wollten. Das wäre mir völlig vermessen vorgekommen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich dann nach den Sternen greifen würde. Dann kriegte ich eine Assistentenstelle in Berlin. Und das war für mich ein Traum. Und von da an habe ich auch sagen können, dass ich Professorin werden will.
Inwiefern hat sich die heutige Situation aus ihrer Sicht verändert?
Als Soziologin weiß ich, dass der Anteil an Arbeiterkindern an Hochschulen leicht gestiegen ist, wenn auch nicht so stark wie der Frauenanteil. Insofern gibt es heute eine stärkere Durchmischung. Aber ich glaube trotzdem, dass sich manches an der Situation sogar verschärft hat. Das ist jetzt vielleicht aus einer bestimmten Generationslage heraus gesprochen, aber ich bekomme mit, dass viele Jugendliche keine längeren Texte mehr lesen und sich stattdessen an kurze Häppchen und Videos auf dem Handy gewöhnen. Das hat Konsequenzen fürs Studium. Ich glaube, dass akademische oder bildungsbürgerliche Elternhäuser da stärker dagegenhalten. Insofern glaube ich, dass der Zugang zur Hochschule zwar leichter geworden ist, dass aber diese Kluft, die man erlebt, immer noch da ist.
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