Verschwiegene Geschichte
Gegenstände, menschliche Gebeine und Schädel wurden während der Kolonialzeit entwendet und in Europa gesammelt. Die Aufarbeitung des Erbes betrifft auch die Universität Leipzig.
Es war ein emotionaler Moment, als im Oktober 2017 in einer feierlichen Zeremonie menschliche Gebeine an Vertreter*innen der Inselkette Hawaii übergeben wurden. Sie waren während der europäischen Kolonialzeit nach Deutschland gelangt und befanden sich lange Zeit in anthropologischen Sammlungen in Sachsen. Ein wichtiger Schritt im Rahmen der Aufarbeitung kolonialen Erbes, denn es war die erste Rückgabe des Freistaates Sachsens überhaupt. In vielen Institutionen Deutschlands befindet sich koloniales Erbe in Form von Kunst- und Alltagsgegenständen, menschlichen Gebeinen oder Schädeln. Doch außerhalb von unmittelbar betroffenen Orten wie Museen gibt es kaum einen öffentlichen Diskurs zu dem Thema.
Auch in Fachkreisen wie etwa der Ethnologie ist man sich weitgehend uneinig darüber, wie mit kolonialem Erbe umgegangen werden soll. Zu komplex seien die Verantwortlichkeiten und zu wenige personelle und finanzielle Ressourcen seien vorhanden, beklagt Claudia Maicher, Landtagsabgeordnete der Grünen in Sachsen. Sie forderte im Dezember eine stärkere Auseinandersetzung mit kolonialem Erbe in der Öffentlichkeit. Schon seit Jahren beschäftigt sie sich mit diesem Thema und habe zwar wenig Widerstand, jedoch große Zurückhaltung erlebt. „Wir sollten uns nicht schämen, diese Bestände zu haben, aber wir sollten verantwortlich damit umgehen“, meint Maicher. Es sei falsch, sie zu ignorieren, ganz besonders dann, wenn konkrete Rückgabeforderungen bestehen, wie es von Hawaii der Fall war.
Seit der Kolonialisierung durch europäische Staaten zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert sind auch in Deutschland immense Sammlungen entstanden, nicht nur von Kunstschätzen, sondern auch von menschlichen Überresten. „Es gab eine regelrechte Sammelwut, deren Motivation bis heute äußerst fragwürdig ist“, erklärt Birgit Scheps-Bretschneider. Sie ist unter anderem Zuständige für Herkunftsforschung der Staatlichen Ethnografischen Sammlungen Sachsen und war maßgeblich an der Rückgabe an Hawaii beteiligt. Ihr ist bewusst, was es für Menschen bedeuten kann, Gebeine ihrer Ahnen nach so vielen Jahren zurückzubekommen. „Man muss diese Toten mit Würde und Respekt behandeln – denn oft verstehen wir gar nicht, welche nicht greifbaren Kategorien damit verbunden sind, die in unserer Kultur vielleicht keine Rolle spielen.“
Die Konferenz „Sensitive Heritage“, welche im Dezember letzten Jahres im GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig stattfand, wurde von Scheps-Bretschneider mitorganisiert und sollte Raum zum Austausch schaffen. Ursula Rao, Leiterin des ethnologischen Instituts der Universität Leipzig, nahm daran ebenfalls teil. Denn nicht nur Museen sind betroffen, auch in Universitäten befinden sich diverse Sammlungen. Aus einem Bericht der Grünen aus dem Jahr 2016 geht unter anderem hervor, dass sich in einem geschlossenen Archiv im ethnologischen Institut der Universität Leipzig 31 Schädel unbekannter Herkunft befanden. Laut Institutsleiterin Rao wurden diese allerdings in die Knochenarchive der Anatomie überführt, um eine sachgemäße Lagerung zu gewährleisten.
Dies ist eine nachvollziehbare Handlung und doch werden Gebeine, Schädel und Objekte zu oft zwischen Institutionen hin und her geschoben. Es gebe landesweit keine gemeinsame politische Richtlinie für einen Umgang, erklärt Scheps-Bretschneider. Eine Rückführung ist in den meisten Fällen extrem kompliziert und teuer. Zu den meisten Gebeinen gibt es keine Dokumente. Wie sie in die Archive gelangten, ist oft unklar. Viele Gebeine und Schädel sind illegal beschafft worden, etwa durch Grabraub. Außerdem wurde zwischen europäischen Staaten und privaten Sammler*innen mit den Gebeinen gehandelt, sodass nicht mehr nachvollziehbar ist wo und von wem sie entnommen wurden. Und selbst im Falle einer eindeutigen Zuordnung können Objekte und Gebeine nicht einfach zurückgegeben werden. „Die Frage ist: Wer sind die legitimen Nachfolger?“, gibt Rao zu Bedenken. Nicht immer seien es die Nationen als solche. Zum Teil existieren die damals bestohlenen Gruppierungen in dieser Form nicht mehr. Es sei utopisch, dass alle Objekte und Gebeine eines Tages rückgeführt werden könnten, es gehe ihr um eine viel grundsätzlichere Frage der Beschäftigung mit der Kolonialzeit. „Rückführung alleine ist noch keine Aufarbeitung“, meint Rao. Dass es heute noch immer keine öffentliche Debatte zu dem Thema gebe, sei ein „Ausdruck nationaler Ungleichheit“. Sie stimmt Maicher in ihrer Forderung zu und plädiert für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte an sich und für eine Suche nach Kontakt zu den betroffenen Menschen. „Von Wiedergutmachung kann man bei all dem zugefügten Leid überhaupt nicht sprechen“, sagt Rao. Es müsse aber nach „realistischen, symbolischen Akten der Versöhnung“ gesucht werden. Auch die Universität steht damit in der Pflicht, transparenter zu sein, was die eigenen Bestände angeht sowie Räume zu schaffen oder Gremien zu bilden, in denen der Diskurs möglich ist.
Es ist eine politische Frage, eine Frage von Macht und von Augenhöhe, die von ehemaligen Kolonialmächten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien zum Teil verweigert wird. Die Schwierigkeit von Rückführungen ist ein Teil dieser Verweigerung. Denn im deutschen Kulturschutzgesetz gibt es keine Klausel, die die Rückgabe geraubter Kulturgüter indigener Völker fordert. Für jüdische Kunst, welche während des Zweiten Weltkrieges entwendet wurde, gibt es jedoch eine Rückgabeklausel – das Bewusstsein gegenüber der eigenen Geschichte scheint im Gesetzbuch hier deutlich präsenter. Der Bund überlässt Entscheidungen dieser Art den Ländern oder Institutionen wie dem deutschen Museumsverband, der Richtlinien zur Rückgabe von Kolonialerbe herausgab. Diese sind jedoch lediglich Empfehlungen. Es hängt also meist von den Anstrengungen einzelner Abgeordneter und Minister*innen ab, ob Rückgaben zustande kommen.
Im Moment arbeitet Scheps-Bretschneider im GRASSI-Museum an der Rückführung menschlicher Gebeine an Australien. Es erfordert jahrelange Arbeit, Kontakte herzustellen und Gebeine und Schädel zurückzugeben, denn für die Erben der geraubten Toten ist das Thema oft ein Stück schmerzhafte Geschichte, die es aufzuarbeiten gilt. Ebenso gilt es aber für uns, die Kolonialzeit als Teil deutscher Geschichte anzuerkennen – und sie aus den Archiven heraus ausführlicher auf die Lehrpläne und in die Medien zu bringen.
Titelbild: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Mo Zaboli
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