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  • Tschechien: Nachbarland, Gastland, Literaturland

    Viele Programmpunkte der Leipziger Buchmesse drehen sich um das Gastland Tschechien. Welche Veranstaltungen hätten wohl große Literat*innen des Landes wie Franz Kafka oder Božena Němcová besucht?

    Tschechien ist ein Land mit bewegter Geschichte und auch deswegen literarisch so interessant. Viele bedeutende Autor*innen aus dem Nachbarland sind bereits verstorben oder zu betagt, um an der Leipziger Buchmesse teilzunehmen. Welche Veranstaltungen des Gastlandes ihnen wohl gefallen hätten?

    Božena Němcová, die tschechische Märchenerzählerin, von der die Buchvorlage zu „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ stammt, hätte sich bestimmt sehr über die Anerkennung des literarischen Werkes ihrer Heimat gefreut. Sie hat im 19. Jahrhundert gelebt, als das heutige Tschechien Teil des Habsburger Herrschaftsgebiets war. Zu Zeiten der Nationalen Wiedergeburt rebellierte sie und viele weitere gegen die aufgezwungene deutsche Sprache und Kultur. Deswegen würde Božena Němcová sicherlich Bohemska gefallen, die lange Nacht der tschechischen Literatur.

    Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Max Brod, Franz Werfel und viele weitere Autoren waren seit der Jahrhundertwende Teil des Prager Kreises. Obwohl die zumeist jüdischen Schriftsteller auf Deutsch geschrieben haben, beherrschten sie auch die tschechische Sprache. Ihnen war der Austausch wichtig – in Prager Kaffeehäusern, aber auch international. Dementsprechend hätten die Autoren vielleicht Gefallen am Café Europa gefunden. Es lädt die Buchmessebesucher zu verschiedenen Gesprächen und Diskussionen ein, wie „AM ENDE – EUROPA! Bedeutung Europas für Polen, Tschechien und Ungarn“ oder „LANGSTRECKENLÄUFER? Umgang der jüngeren Generation mit den Herausforderungen der Zeit“.

    Die tschechische Hauptstadt Prag ist berühmt für ihre geschichtsträchtigen Kaffeehäuser, in denen sich schon Kafka und Max Brod trafen und über Literatur und das Leben philosophierten.

    Prager Kafeehäuser kann die Leipziger Buchmesse leider nicht bieten.

    Die Autoren des Prager Kreises haben auch den Ersten Weltkrieg miterlebt, in dem Tschechen für die kaiserliche und königliche Armee kämpfen mussten. Ein wichtiges Zeitdokument ist Jaroslav Hašeks ironischer Antikriegsroman „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkriegs“. Die Schaubühne Lindenfels zeigt diese und weitere Literaturverfilmungen.

    1918 wurde die Tschechoslowakei aus dem Exil heraus gegründet. Literarisch waren die folgenden Jahre vor allem von Utopie und Surrealismus geprägt. Die Zeit der Träume endete aber bald: 1938 kamen die Nationalsozialisten ins Land und damit Vernichtung und Elend. Zdeněk Jirotkas Roman „Saturnin“ erschien zu dieser Zeit. Es ist ein humoristischer Text über einen jungen Mann und seinen Diener Saturnin, der Wind ins gutbürgerliche Leben des Erzählers bringt. Grenzüberschreitungen und Tabus sind zentrale Themen des Romans, die sich auch auf der Buchmesse wiederfinden lassen: Die beiden Autoren Jaromír Typlt und Matěj Spurný sprechen über Tabus der tschechischen Gesellschaft und die Erfahrungen zweier totalitärer Regimes.

    Denn auf den Nationalsozialismus folgte 1948 der Kommunismus, eine Zeit, die künstlerisch vor allem von Widerstand geprägt war. Wer nicht im Stil des Sozialistischen Realismus schreiben, malen, sprechen wollte, hatte kaum eine andere Wahl, als sich der Samisdat-Literatur anzuschließen – per Hand oder Schreibmaschine kopierte Texte, die illegal verbreitet wurden.

    Nachdem 1968 der Prager Frühling mit seiner Idee vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz niedergeschlagen worden war, bestand nur noch wenig Hoffnung für eine freie Zukunft des Landes. Viele Künstler*innen gingen ins Exil. Zu ihnen gehört Milan Kundera, der nach Frankreich, und Libuše Moníková, die nach Deutschland ging. Ersterer lebt noch; am Nationalstand der Tschechischen Republik in Halle 4, Stand Nr. D401, wird während der gesamten Messe eine Ausstellung zu seinem Werk zu sehen sein. Zweitere ist jung verstorben, wäre aber bestimmt zu einer Lesung von Radka Denemarková gegangen, die gleich an mehreren Tagen über ihren neuen Roman „Ein Betrag zur Geschichte der Freude“ spricht, in dem es um Gewalt an Frauen geht.

    Prag, die Hauptstadt des Gastlandes der Leipziger Buchmesse 2019, Tschechien, ist Literaturzentrum des Landes und geschichtsträchtige Metropole.

    Beim Wandeln durch Prags Straßen fühlt man sich oft in eine andere Zeit versetzt.

    Die Gedichte, Bilder und Collagen von Jiří Kolář waren ebenfalls Teil des Widerstands gegen das kommunistische Regime. Wie viele andere unterzeichnete der Künstler die Charta 77 in ebendiesem Jahr, um auf Menschenrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei aufmerksam zu machen. Ihn hätte sicherlich begeistert, dass auch Bilder eine große Rolle bei der Leipziger Buchmesse spielen: Im deutschen Buch- und Schriftmuseum gibt es eine Ausstellung zu tschechischer Avantgardebuchkunst, in der Galerie KUB zu Comics. Auch Theater wird zu sehen und bereden sein. Den Dramatiker und ersten Präsidenten der 1993 ausgerufenen Tschechischen Republik, Václav Havel, hätte das bestimmt gefreut.

    Auch wenn die verschiedenen Schreckensherrschaften ein Ende haben, muss sich Tschechien bis heute mit vielen schwierigen Themen auseinandersetzen. Eins davon ist der Antiziganismus. Dem stellt sich Viktorie Hanišová in ihrem Debutroman „Anežka“, in dem eine Frau die Herkunft ihrer adoptierten Roma-Tochter verleugnet. Hiermit geht die Zeitreise zu Ende und die Buchmesse kann beginnen. Überlebenstipps für das stressige Wochenende gibt es hier.

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