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    Maria Stepanova erweckt mit ihrem Roman „Nach dem Gedächtnis“ nicht nur die Toten des letzten Jahrhunderts, sondern appelliert auch, uns selbst nicht mit Dingen zu überfüllen.

    Wer nur einen rein historischen Roman erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. Denn die Autorin bedient sich vielen unterschiedlichen Elementen des Schreibens, um ihre Familiengeschichte bis zurück zu ihren Ururgroßeltern aufzuarbeiten. Dafür beschreibt und interpretiert sie alte Fotografien, zählt Erinnerungen auf und gibt wieder, was sie in Dokumentarfilmen gesehen oder in anderen Büchern gelesen hat.

    In drei Teilen unterteilt, erzählt Maria Stepanova zuerst wie alles begann. Sie schreibt von Abenden in ihrer Kindheit, in der sie alte Fotoalben mit ihrer Mutter durchblätterte und erinnert an Reisen, die sie unternommen hat, um ihrer Familiengeschichte näher zu kommen. Die 1972 in Moskau geborene Autorin, begibt sich dafür in die entlegensten Dörfer Russlands. Von diesem Ursprung aus verteilt sich ihre Familie in ganz Russland, über Deutschland bis nach Frankreich. Sie fährt zu Friedhöfen, ob in Wien oder in Würzburg, zu Stadtarchiven und zu erinnerungsüberladenen Wohnungen verstorbener Tanten. Man spürt den Drang der Autorin, Licht ins Dunkle zu bringen. Es folgen essayistische Gedanken zum bildlichen Festhalten und wie verwerflich manche Fotografien sind, warum wir erinnern und warum manch einer nicht von der Vergangenheit loskommt. Sie zitiert aus Büchern, die sie gelesen hat. Zeigt auf, wie viel Zeit diese Thematik in ihrem Leben einnahm und wie viele andere sich vor ihr damit beschäftigt haben.

    In regelmäßigen Abständen schiebt die Autorin sogenannte „Zwischenkapitel“ ein und lässt ihre toten Verwandten selbst zu Wort kommen. Dafür druckt sie alte Briefwechsel ab, welche immer wieder andere Absender und Empfänger haben und einen Einblick in die jeweilige Zeit geben.

    Im zweiten Teil rückt nun die Geschichte ihrer frühen Verwandten in den Vordergrund. Sie beginnt bei ihrer Ururgroßmutter Sarra, erzählt über ihr Studium in Paris und wie sie in ihrer frühen Kindheit von den Revolten in Russland betroffen und teils involviert war. Dieses szenenhafte Eintauchen, den Toten Leben einzuhauchen, zieht sich durch den ganzen Text. Es ist dieses innere Pflichtgefühl, das man sich selbst irgendwann aneignet, das einen immer weiter durch das Buch führt. Die Erlebnisse ihrer Familie sind eng an die großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts geknüpft. Man erfährt, wie Teile ihrer Verwandtschaft nicht mehr als jüdisch wahrgenommen werden wollten oder wie ein junger Soldat seiner Mutter die Grauen an der Front im Zweiten Weltkrieg verheimlichte. Stepanova lässt diese Ereignisse nicht für sich stehen, sondern versucht, die Leerstellen zu füllen und lässt Fakten und Hintergrundinformationen einfließen, mit der sie zu verstehen versucht, warum ihre Verwandtschaft so gehandelt hat.

    Zuletzt nimmt die Autorin uns in ihre eigene Vergangenheit mit. Dieser dritte Teil besteht vor allem aus den Geschichten, welche Stepanova nicht erst selbst zusammenbringen musste. Es sind Dinge, die sie selbst erlebt hat oder Geschichten, welche sie von ihren Eltern oder Großeltern erzählt bekommen hat. Man bleibt zwar in der Vergangenheit, aber man merkt, dass es die Erinnerungen sind, welche sie so sehr festhalten wollte, weil sie sonst nur in ihrem Kopf existieren würden. Thematisiert wird hier auch erneut der Tod und wie dieser alles immer wieder änderte.

    Letztendlich wird der Autorin klar, dass sie nie alles schreiben, nie alles festhalten kann, was sie von ihrer Familiengeschichte weiß. Vor allem aber wird sie nie alles darüber erfahren. Denn manchmal muss man sich vom Vergangenen lossagen und die Toten ruhen lassen.

    Am 23. März ist Maria Stepanova um 19 Uhr in der Schaubühne Lindenfels zu sehen. Im Rahmen von „The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“, dem Programmschwerpunkt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Leipziger Buchmesse, redet sie zum Thema „Identitäten und Erinnern in hybriden Räumen“, wenn man gewissermaßen „DA-ZWISCHEN“ ist.

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