Von Ampeln, Brezeln und dem Tod
Das Leben mag die besten Geschichten schreiben, aber man muss sie auch hören wollen. Kolumnistin Theresa erzählt diesen Sonntag von einer Alltagssituation, die sie nachdenklich stimmte.
Ich stehe also da, an dieser Ampel. Es regnet diesen wunderbaren Sprühregen, der bei mir Mitleid auslöst für sämtliche Menschen mit einer gemachten Frisur, und ich höre eine Kuschelrock-Playlist im Shuffle-Modus, als an mir ein junger Mann vorbeigeht. Er schiebt einen Kinderwagen vor sich her, dessen kleiner Passagier – oder dessen kleine Passagierin – sich nicht sichtbar, aber hörbar beschwert. Bis hierhin scheint das vielleicht kein kolumnenwürdiges Thema zu sein. Doch dann passiert etwas, das mich zum Nachdenken bringt. Der Mann bleibt an einem Schaufenster stehen, mit seinem schreienden Sprössling, den ich trotz meiner Kopfhörer gut hören kann, und sieht hinein. Er betrachtet den Inhalt des Fensters mehrere Sekunden lang, und ich lasse meine Ampel aus dem Fokus meines Sichtfeldes verschwinden, um zu sehen, was ihn so fasziniert. In großen Lettern steht „Bestattungen” über dem Eingang der verschlossenen Tür (es ist ein Sonntag), und der Mann betrachtet eine Auswahl an Urnen. Es gibt welche aus schlichtem, dunklem Holz und welche in den unterschiedlichsten Farben, Größen und Formen, doch der Blick des Mannes bleibt an einem rosafarbenen Design mit schwungvollen, goldenen Linien hängen.
Es ist eine dieser Situationen, die einem die Vergänglichkeit des Lebens in kurioser Form vor Augen führt: Dieser junge Vater betrachtet mit dem Hintergrundgeräusch der Stimme seines kleinen Kindes, dem Soundtrack des puren Lebens, Behältnisse, in denen Menschen die letzte Ehre erwiesen wird. Möglicherweise, so erscheint mir, denke ich auch in allzu philosophischer Weise über diese sich abspielende, friedliche Situation nach. Vielleicht ist er selbst Bestatter und will die Konkurrenz im Auge behalten. Oder er wundert sich, wer in aller Welt in einem rosa-goldenen Behälter die letzte Reise antreten möchte.
Ich fange an, abzuschweifen und ich beginne, mich zu fragen, wie es um meine eigene Angst zum Tod steht. Die Ampel wird einfach nicht grün, und ich warte weiter in der feuchten Leipziger Luft, an einer absolut unbefahrenen Kreuzung. Der Vater wendet ich nun endlich seinem Kind zu, es ist eine kleine Clarissa die „ihre Brezel vorhin schon gegessen hat, da gibt’s jetzt nicht noch eine!” Der Gedanke an Brezeln lenkt mich ab, ich muss noch Brot kaufen, fällt mir ein. Clarissa und ihr Papa setzen ihren Weg fort und ich mache meine Musik lauter, tippe ungeduldig mit dem Daumen gegen den Fahrradlenker. Wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, ein Gedanke, der mir oft unwillkürlich in den Kopf schießt, was würde ich dann aus diesem verregneten Sonntag machen? Vermutlich weder Brot kaufen noch auf eine grüne Ampel warten, obwohl sowieso alles frei ist. Es ist eigentlich zu früh für meinen allwöchentlichen Sonntagabendblues, aber die Szene hat sich in meinen Gedanken festgekrallt. Worauf warte ich eigentlich?
Neben mir fährt ein Radfahrer an die Ampel heran. Er sagt etwas, aber Phil Collins singt zu laut in mein Ohr. Der Radfahrer verdreht kurz die Augen, lehnt sich herüber und haut mit Schwung auf den Ampelknopf. Über dem roten Ampelmännchen, das ich nun so lange angestarrt habe, erscheint blinkend ein Wort: „WARTE”.
Dem anderen Radfahrer sei Dank habe ich es also doch noch über diese Straße geschafft. Allzu lange hätte ich in diesem Regen sowieso nicht mehr gewartet, ob mit Anweisung oder ohne. Was ich nun aber dank meiner eigenen Unaufmerksamkeit sicher weiß: Das rosa-goldenen Muster, nein, das wäre wirklich nicht meins.
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