„Wir vernichten unsere Lebensgrundlage“
Leipzigs Artenvielfalt schrumpft, sagt René Sievert, Regionalvorsitzender des Naturschutzbundes. Ein Gespräch über den problematischen Umgang der Stadt mit Bürgern und Natur
Am Beispiel der Vogelvielfalt auf dem Leuschner-Platz hat der Naturschutzbund (NABU) die ökologische Bedeutung städtischer Brachflächen detailliert dokumentiert. Anlässlich der konkreter werdenden Bebauungspläne hat student!-Autor Benjamin Sasse mit René Sievert über die Vernachlässigung von Naturschutz und Bürgerbeteiligung gesprochen.
student!: Welche Bedeutung hat der Wilhelm-Leuschner-Platz für Leipzig?
Sievert: Er ist eine der letzten großen Freiflächen in der Stadt, und das heißt, dass es natürlich große Begehrlichkeiten gibt, diese Fläche zu bebauen. Deshalb haben wir frühzeitig darauf hingewiesen, dass man auf die Natur Rücksicht nehmen muss, die sich dort in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat. Es ist eben nicht nur eine begehrte Baulücke, sondern auch ein Platz der biologischen Vielfalt. Dort leben viele Tierarten, darunter auch besonders geschützte Vogelarten, die dort brüten, zum Beispiel Gelbspötter und Nachtigallen. Wir haben festgestellt, dass die Artenvielfalt dort höher ist als auf vergleichbaren Flächen im Umfeld, sprich: in den Parkanlagen, die in der Innenstadt existieren. Das ist das Besondere an diesem Platz. Wir hoffen auf ein Miteinander von Mensch und Natur – das ist ja auch das Motto des NABU. Deshalb haben wir frühzeitig darauf hingewiesen, aber leider gibt es wenige Aktivitäten, um den Tieren dort das Überleben zu sichern.
In Ihren Positionspapieren ist vor allem von Brutvögeln die Rede, also die Arten, die auf dem Leuschner-Platz ihren Nachwuchs großziehen. Bezieht sich die Bedeutung des Platzes auch auf andere Tier- und Pflanzenarten?
Die Vögel gelten als Bioindikatoren, das heißt sie sind repräsentativ für den Gesamtzustand des Lebensraums. Damit ist immer eine Vielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt verbunden. Leider sind solche Brachflächen in Leipzig nicht ausreichend untersucht. Bei der Vogelwelt haben wir diese Vielfalt jetzt einmal zeigen können. Das Problem ist, dass an vielen anderen Stellen in der Stadt genau diese Stellen verschwinden. Leipzigs Artenvielfalt schrumpft! Da ist es aber unbemerkt oder nicht nachweisbar.
Können gewöhnliche Parkflächen gleichwertiger Ersatz sein?
Nein, weil diese „naturfern“ gepflegt werden, also viel zu intensiv. Es wird uns häufig gesagt, man müsse abwägen zwischen den verschiedenen Nutzungsinteressen auf solchen Grünflächen, also Freizeitnutzung, Sicherheit, Denkmalschutz. Aber dabei fällt in Leipzig leider der Naturschutz immer hinten runter. Immer wieder wird das Sicherheitsbedürfnis ins Feld geführt, also dass die Hecken niemals so dicht sein dürfen, dass Ordnungsamt oder Polizei nicht durchgucken können. Aber das kann nicht der Maßstab für ein gesundes Wohnumfeld sein. Da sich sämtliche Grünflächen in diesem Zustand befinden, fehlen also diese Ausweichflächen. Natürlich könnten Brutvögel statt auf dem Leuschnerplatz auch 100 Meter weiter brüten, wenn denn dort Brutgelegenheiten wäre. Aber es gibt sie eben nicht.
Wie sollte denn eine Ersatzfläche idealerweise aussehen?
Vögel und andere Tiere brauchen zusammenhängende Gebüsche, die in Höhe und Umfang so groß sind, dass sie dort Unterschlupf finden. Das Laub sollte liegen bleiben. Man braucht große Bäume, sandige Stellen und Blühwiesen als Insektennahrung. Letztlich werden die Insekten von vielen anderen Tieren gefressen. Solche Stellen könnten in den umliegenden Grünflächen entstehen, aber sie sind ganz im Gegenteil durch Baumaßnahmen verschwunden.
Wie ist bisher Ihre Kommunikation mit der Stadt Leipzig zum Thema Leuschnerplatz gelaufen?
Wir versuchen stets frühzeitig, mit Überzeugungsarbeit etwas zu bewegen. Die Verwaltung weigert sich aber meist grundsätzlich, weil deren Handeln eine andere Sprache hat. Wenn man nicht mit Paragraphen und Verordnungen argumentiert, interessiert der Bürgerwille oder der Wille von Vereinen im Grunde genommen gar nicht. Die Stadt tut nur das Minimale, wozu sie nach Naturschutzrecht verpflichtet ist – und nach unserer Auffassung nicht mal das. Hier und da gibt es Verstöße gegen das Bundesnaturschutzgesetz, die wir entweder nicht nachweisen können oder die selbst die Staatsanwaltschaft nicht gerichtsfest belegen kann. Daher wird auch bei Anzeigen von uns in dieser Richtung meistens das Verfahren eingestellt.
In diesem Fall gab es Gespräche und die Stadt Leipzig hat auch einige Zusicherungen gemacht, aber wir stellen immer wieder fest, dass sich das nicht in der Praxis niederschlägt. Deshalb wollen wir auch mit unserer Petition erreichen, dass man solche Fragen grundsätzlich mitberücksichtigt.
Es gibt Naturschutzgesetze, aber Sie sagen, das reicht nicht. Wie das?
Wir werden mit unseren Bedenken auf das ordentliche Verfahren vertröstet. Das Problem dabei ist: Zuerst gibt es einen Architektur-Wettbewerb, dessen Sieger vorgestellt wird. Dann erst gibt es die Möglichkeit für die Bürger, sich dazu zu äußern, und es wird abgewogen: Können wir diese Naturschutz-Bedenken jetzt berücksichtigen oder nicht? Und meistens wird das „weggewogen“, weil eben andere Dinge dagegensprechen. In dem Moment, in dem der Gewinnerentwurf vorgestellt wird, ist es im Grunde genommen schon zu spät. Unserer Meinung nach müssen die Architekten aber den Naturschutz von vornherein einbeziehen.
Jetzt ist die Situation so: Auf dem Leuschner-Platz soll dort gebaut werden, wo Natur ist, und wo Asphalt ist, soll renaturiert werden. Das bedeutet, es wird eine Rasenfläche mit ein paar Bäumchen darauf. Das hat mit Lebensraum nichts zu tun. Das ist ein bekloppter Ansatz. Man muss da bauen, wo ohnehin schon asphaltiert ist und der Boden entwertet wurde. Dieser Aspekt wurde in der Ausschreibung des Wettbewerbs überhaupt nicht berücksichtigt.
Deswegen ist eine Einbindung in das ordentliche Verfahren und nach Recht und Gesetz nicht das, was im Endeffekt der Natur und dem Bürger das Meiste bringt, jedoch das Einzige, auf das sich die Verwaltung in der Regel einlässt. Die Mitsprachemöglichkeiten sind sehr begrenzt. Wir kennen das große Beispiel Stuttgart 21, wo man den Bürgerwillen nicht berücksichtigen wollte. Warum muss der Entscheidungsprozess immer diese Richtung nehmen?
Ist diese Art von Denken in Sachsen besonders stark ausgeprägt?
Wir haben in letzter Zeit festgestellt, dass es in vielen deutschen Großstädten ganz ähnliche Probleme gibt. Aber ja, das ist schon unser Eindruck. Es gibt das berühmte „Baum ab“-Gesetz in Sachsen, das 2010 unter der schwarz-gelben Regierung beschlossen wurde. Seitdem haben die Kommunen, Bürger und Verbände relativ wenige Möglichkeiten, Fällungen zu verhindern. Aber selbst wo der Gehölzschutz noch greifen würde, gibt es in Null-Komma-Nichts eine Ausnahmegenehmigung der Naturschutzbehörde, oft ohne adäquaten Ausgleich. Wir sehen nicht, dass die Verluste wie vorgeschrieben an anderer Stelle wieder ausgeglichen werden. Das erleichtert natürlich Investoren, Großprojekte zu realisieren. Aber genau mit dieser Masche machen wir unseren Planeten kaputt. Wenn Bauherren wirklich zur Schaffung von Ausgleich gezwungen würden, wären solche Projekte oft von vornherein nicht realisierbar. Und das wäre besser für unseren Planeten. Der Flächenverbrauch in Deutschland ist gigantisch.
Wenn man nun sagt, „der Platz hat eine zentrale Bedeutung im städtischen Kontext und ist eine Lücke, die gefüllt werden muss“, was würden Sie dem entgegnen?
Das ist nachvollziehbar, aber man müsste grundsätzlich solche Projekte nachhaltiger umsetzen, nicht nur auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Leipzig hätte als sogenannte „Kommune der Biologischen Vielfalt“ (Bekenntnis zum Erhalt der Artenvielfalt, das Leipzig 2010 unterzeichnet hat; Anm. d. Red.) die Chance gehabt, zu zeigen, wie man so eine Lücke schließt und trotzdem die biologische Vielfalt erhält. Zu sagen: „Wir haben hier jetzt hässliche Gebäude gebaut und die Baulücke geschlossen!“, das kann jeder. Schön wäre zu zeigen, wie es geht, Lebensraum und ein gesundes Wohnumfeld zu vereinen. Gerade an dieser Stelle hätte Leipzig die Chance dazu. Die Fläche ist so begehrt, dass man bestimmt jemanden findet, der das Projekt in einer nachhaltigen Weise realisiert, auch wenn es mit mehr Kosten oder Aufwand verbunden wäre.
Titelbild: Ina Ebert
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