Großstädte ziehen mich an und stoßen mich ab
Stadt und Land: eine Gegenüberstellung von offensichtlicher Überforderung und Problemen, die sich in Häusern verstecken.
Ein betrunkener Jugendlicher erledigt sein Geschäft vor einem Laden. Vorher hat er zusammen mit einem Freund die Tramhaltestelle angemalt, danach eine wartende Frau mit eindeutiger Geste zum Hosenstall angesprochen: „Ich will Ihnen etwas zeigen.“ Im Einkaufszentrum muss eine Frau wiederbelebt werden, ihre Enkelin steht kreidebleich neben den Sanitäter*innen. Ein Mädchen weint und weint und hört nicht mehr auf, ihr Arm scheint gebrochen zu sein.
In den letzten Wochen habe ich einmal den Krankenwagen gerufen und einmal jemanden die Polizei rufen lassen. Ich habe Menschen gesehen, wie sie harte Drogen zu sich nehmen und welche, die sicherlich drauf waren. In der Tram erzählte ein uralter Mann einem anderen, warum er jetzt die AfD wählt. In einer anderen Bahn hat sich jemand mit den Fahrkartenkontrolleuren geprügelt und daraufhin wurde eine Stimme laut: „Achja, unsere lieben Migranten.“ All diese Erlebnisse vermischen sich in meinem Kopf zu einem großen Schrei: Großstadt! Sie setzen sich zusammen zu einem Bild, das ich gar nicht haben will und das mich doch nicht loslässt.
Ich bin überfordert. Ich bin doch vom Land.
Begonnen hat alles mit und in Hannover: Eine gute Stadt um als Jugendliche auszuprobieren, wie es sich so anfühlt, „richtig“ shoppen oder feiern zu gehen. Eine geordnete Stadt mit einem leicht zu verstehenden Hauptbahnhof (Hamburg, Berlin, schneidet euch mal ein paar Scheiben ab), bei dem ich trotzdem mehrmals den falschen Ausgang genommen habe. Nach der Schule habe ich für ein halbes Jahr in Auckland gelebt, während des Bachelorstudiums ein Semester lang in Prag – beides die größten Städte des jeweiligen Landes. Großstädte ziehen mich an und stoßen mich ab. Ich mache sogar Urlaub in ihnen, obwohl ich Urlaub von ihnen bräuchte.
Leipzig ist so grün, heißt es. Aber Parks sind keine Felder. Wenn ich die Tram nehmen muss, um in die Natur zu fahren, ist das keine Natur mehr. Das Elend der Stadt scheint sich sowieso in diesen Verkehrsmitteln abzuspielen, die ich erst spät kennenlernte. Bei uns fuhren nur Busse. Auch an Rolltreppen und Aufzüge kann ich mich bis heute nicht gewöhnen – mehr als zwei Stockwerke gab es bei uns kaum. Und der Blick aus dem Küchenfenster auf eine Wiese, die sicherlich bald zugebaut wird, ist nicht das gleiche wie der Blick auf ein Feld, bei dem man weiß, wann es welche Früchte tragen und wer zum Abstoppeln kommen wird.
Leipzig ist doch so klein. Hier kennt doch jede*r jede*n. Es stimmt, die Cousine der besten Freundin meines Freundes ist die beste Berlin-Freundin meiner besten Freundin. Ein Freund studierte hier zusammen mit einer, die mit einer Lüneburg-Freundin von mir schon zu Schulzeiten befreundet war. Aber in meinem Dorf hatten fast alle in der Straße den gleichen Nachnamen. Jahrelang sah man nicht nur auf dem Pausenhof, sondern auch im Supermarkt und auf den Feldern immer die gleichen Gesichter, Hunde und Pferde. Wollte man niemandem begegnen, musste man einfach nur tief in den Wald hinein.
Ich idealisiere und romantisiere das Leben auf dem Land. Natürlich habe ich mir zu Schulzeiten – und manchmal auch im Bachelor im mittelgroßen Lüneburg ─ nichts mehr gewünscht als Nachtbusse, Anonymität und Kulturleben. Überforderung tritt hier nur nicht ein, weil sich die Probleme in den Häusern verstecken. Man ahnt vieles, weiß einiges und sieht nichts. Wessen Eltern die NPD wählen, findet man Jahre später über Facebook heraus. Gerüchte über Alkoholiker*innen und häusliche Gewalt helfen niemandem, wenn sie nicht angesprochen werden. Jede Schulkinddummheit, jede besoffene Aktion, jede schnell angefangene und ebenso wieder beendete Beziehung muss vergessen werden, damit die Menschen überhaupt noch miteinander reden können.
Aber manchmal wird man auf dem Dorf auch aufgefangen. Es ist so beruhigend, zu wissen, wann was passieren wird. Dass das Unerwartete für alle überraschend kommt und jede*n interessiert. Gemeinschaft entsteht durch Gemeinsamkeiten: Hier tanzen alle auf dem gleichen Fest.
Ich bin auch ein wenig entwurzelt, das trägt stark zu meinem Traumbild bei. Ich habe Heimweh nach einer Heimat, die ich gar nicht mehr hab – denn meine Eltern sind nach meinem Abitur selber flügge geworden und haben das Dorf verlassen. Ich weiß, dass ich nicht mehr zurückkehren werde, nicht für Weihnachten, vermutlich auch nicht zum Kinderkriegen und Altwerden.
Während ich diese Zeilen in meinen Laptop tippe, ist es draußen ganz still. Schnee und Blütenblätter regnen auf die Straße herab, Vögel zwitschern. Wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder auf dem Land.
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