Wenn die Universität zum Zuhause wird
Der Campus am Augustusplatz steht allen Menschen offen. Auch Obdachlose verbringen hier ihre Tage. Das wird laut Universität Leipzig immer häufiger zum Problem. student! sprach mit Betroffenen.
Die Sonne strahlt, es ist ein warmer Apriltag. Der Außenbereich der Mensa am Park ist gut besucht, fast alle Tische sind besetzt. Geschirr klappert, jemand hört laute Musik. Sie vermischt sich mit dem Stimmengewirr der Studierenden, die mit ihren Kommilitonen zusammensitzen, essen und reden. Mitten unter ihnen, gleich neben der Tür zur Mensa, sitzt Matthias Mieth. Älter als der Rest, in grauer Jogginghose, hebt er sich von den Studierenden ab. Er ist keiner von ihnen, auch wenn er auf dem Campus am Augustusplatz seine Tage verbringt, wie alle anderen an den braunen Holztischen sitzt und das Mensaessen isst – jedenfalls das, was Studierende davon auf ihren Tellern übrig lassen. Matthias Mieth ist obdachlos und die Universität Leipzig ist in gewisser Weise sein Zuhause.
„Ich komme seit fünf Jahren an die Uni“, erzählt der 40-Jährige. Hier geht er zur Toilette, sammelt Pfand, wärmt sich auf. Dabei ist er nicht alleine. So wie Matthias Mieth machen es viele Leipziger, die keine Wohnung haben. Die Gebäude der Universität stehen auch ihnen offen. Eine bewusste Entscheidung, wie Carsten Heckmann, Pressesprecher der Universität Leipzig, erklärt: „Der Aufenthalt von Obdachlosen an der Universität wird von uns grundsätzlich toleriert, es ist uns wichtig, dass unser Campus öffentlich zugänglich ist.“ Das gilt aber nur dann, wenn auch bestimmte Regeln eingehalten werden. Straftaten, hygienische Probleme, Belästigungen, Behinderungen sowie Alkohol- und Tabakkonsum sollte es nicht geben. Andernfalls werde eine „Toleranzgrenze“ überschritten, wie Heckmann es nennt.
Dies sei im letzten halben Jahr vermehrt der Fall gewesen, berichtet der Pressesprecher der Universität. Er sagt: „Es häuften sich Beschwerden, gerade auch von studentischer Seite, über Vorfälle mit Obdachlosen.“ Diese reichten von Geruchsbelästigungen bis hin zu aggressivem Verhalten und Handgreiflichkeiten. Obdachlose hätten manchmal über Stunden hinweg Toiletten besetzt und Vorlesungen lautstark gestört. „Hier ist für uns eindeutig eine neue Sachlage entstanden“, stellt Heckmann fest. Daher habe die Universität Leipzig gehandelt und im Dezember 2018 einen Sicherheitsdienst beauftragt. Die Mitarbeiter der Firma Ost West Security (OWS) ziehen nun auf dem Campus am Augustusplatz ihre Runden und „schauen nach dem Rechten“, so der Pressesprecher.
Personen, die sich den Hausregeln der Universität widersetzen, können von den OWS-Mitarbeitern den Gebäuden der Universität verwiesen werden. In letzter Konsequenz spricht das Sicherheitspersonal auch Hausverbote aus. Obdachlosen Menschen sei es seit dem Einsatz von “Ost West Security” nicht mehr möglich, an der Universität zu schlafen, erzählt Matthias Mieth. Auch er wurde schon von Mitarbeitern der Firma angesprochen. Ihr Verhalten empfand er als respektlos. Bis hinein in die Toiletten seien die Wachmänner ihm gefolgt, ohne ersichtlichen Grund. „Das geht zu weit“, findet der 40-Jährige. Er fühle sich in seiner Menschenwürde verletzt. „Ich störe hier doch keinen“, sagt er.
Anders als Mieth empfindet Florian Rißmann den Security Dienst als gute Sache. Der Jurastudent wäre froh, wenn die OWS-Mitarbeiter auch an seinem Arbeitsort präsent wären. Als studentische Hilfskraft arbeitet er einmal die Woche in der Bibliothek Rechtswissenschaft in der Burgstraße. Dort ist die Sicherheitsfirma nicht im Einsatz. Und das, obwohl sich Vorfälle mit Obdachlosen in der Einrichtung häufen, wie Rißmann berichtet. Er erzählt von zwei Männern, die immer wieder Probleme machen. Sie seien laut, aggressiv und jedes Mal betrunken, wenn er sie sehe. „Es ist keine schöne Situation“, sagt der Student. Am liebsten wäre es ihm, wenn Menschen ohne Nutzerausweis überhaupt nicht in die Bibliothek kämen. Er fühlt sich gestört von der „schlechten Hygiene“ und empfindet es als „Gefährdung“, dass obdachlose Menschen „Krankheitserreger an Toiletten und Türklinken” hinterlassen könnten.
Rißmanns Meinung findet unter anderen Mitarbeitern der Jura-Bibliothek nicht nur Zustimmung. Eine seiner Kolleginnen, die hier nicht namentlich genannt werden möchte, sieht seine Aussagen als respektlos an. „Der Umgang mit dem Thema stößt mir viel mehr auf, als die Vorfälle selbst“, erklärt sie. Ihr selbst sei es in zwei Jahren als studentische Hilfskraft in der Bibliothek noch nicht passiert, dass jemand richtig aggressiv wurde. „Pampig vielleicht, aber nie übergriffig“, sagt die Studentin. Sie wünscht sich bei der ganzen Problematik mehr Gelassenheit. „In den letzten Jahren war das nie ein Riesenthema“, erinnert sie sich. Geändert habe sich das auch durch die neue Leiterin der Bibliothek Rechtswissenschaft, Christine Brandenburger. Diese problematisiere die ganze Sache, findet die Studentin.
„Die Situation stellt Geduld und Toleranz auf die Probe“, sagt Brandenburger selbst. Im Gespräch mit student! macht sie deutlich, dass die Situation seit einigen Monaten tatsächlich angespannter sei, als sonst. „Zurzeit kommt es fast täglich zu Vorfällen“, so die Leiterin der Bibliothek Rechtswissenschaft. Sie gibt auch zu bedenken, dass weibliche Mitarbeiterinnen am Abend teilweise nur zu zweit Dienst in der Bibliothek haben. „Das Ganze wird auch unter unseren Hilfskräften kontrovers diskutiert“, so Brandenburger. Trotz allen Ärgers ist es ihr wichtig zu betonten, dass das Aufsuchen der Bibliothek in Deutschland ein Grundrecht ist, für alle Bürger: „Das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung regelt, dass kein Mensch beim Erwerb von Bildung aus irgendwelchen Gründen diskriminiert werden darf.“
„Prinzipiell ist in unseren Bibliotheken jeder willkommen“, sagt auch Brandenburgers Kollegin Lucia Hacker, Leiterin des Bereichs Benutzung und Service. Sie betont, dass es „die Obdachlosen“ aus ihrer Sicht so pauschal nicht gebe. Stattdessen spricht Hacker von „Menschen mit Besonderheiten“. Auch diesen stehe die Bibliothek offen, solange die Regeln eingehalten und niemand gestört oder verängstigt werde. „Es geht um das Verhalten der Menschen, nicht um ihr Aussehen“, so die Bibliothekarin. Oft würden obdachlos aussehende Menschen auch einfach die Tageszeitung in der Bibliothek lesen, einige hätten auch einen Nutzerausweis und loggten sich ins W-LAN ein. „Diese Menschen regeln hier ihre Angelegenheiten“, sagt Hacker. Niemand solle sich über sie beschweren, „nur weil sie vielleicht etwas abgerissen aussehen oder etwas unangenehm riechen.“
Florian Rißmann aus der Jura-Bibliothek sieht das etwas anders. „Die Aufenthalte in der Bibliothek lösen das Problem doch nicht“, sagt der Student. In dem Moment, wo die Obdachlosen bleiben könnten, sei ihnen vielleicht geholfen, nicht aber auf lange Sicht. Viele der Menschen seien psychisch krank, da müsse man ansetzen. Der momentane „Missstand“, wie er es nennt, müsse „nachhaltig bekämpft“ werden. Hier sieht er die kommunale Politik in der Verantwortung. Derzeit besteht in Sachen Obdachlosenhilfe keine Kooperation zwischen der Stadt Leipzig und der Universität Leipzig, wie die stellvertretende Pressesprecherin der Universität, Katrin Henneberg, bestätigte. Zur Frage, warum das nicht der Fall ist, wollte sie sich nicht äußern.
Die Pressestelle der Stadt erläuterte dagegen, dass ein neu eingeführter Hilfebus auch an die Universität komme. Dieser wird im Auftrag der Stadt von der SZL Suchzentrum GmbH betrieben. Sozialarbeiter fahren damit Brennpunkte in Leipzig gezielt an und versorgen Wohnungslose mit dem Nötigsten. Allerdings wurden die Mitarbeiter des Busses erst durch die Nachfrage von student! über die momentanen Probleme an der Universität informiert. „Der Hilfebus wird kurzfristig seine Präsenz im Umfeld der Universität verstärken“, sagte Martina Kador-Probst, Leiterin des Sozialamts. Sie gab außerdem bekannt, dass der Hinweis auf eine fehlende Kooperation mit der Universität in der Abteilung Soziale Wohnhilfen auf „offene Ohren“ gestoßen sei. „Gern möchte das Sozialamt mit der Universität diesbezüglich in Kontakt treten“, so die Amtsleiterin. Martina Menge-Buhk vom städtischen Referat für Kommunikation verwies außerdem auf schon bestehende Hilfsangebote der Stadt. „Tagsüber können wohnungslose Menschen Unterstützung in den Tagestreffs Insel und Leipziger Oase finden“, so Menge Buhk. Außerdem stehen drei Übernachtungshäuser für wohnungslose Menschen zur Verfügung. Diese bieten laut Menge-Buhk genug Plätze an, im Sommer wie Winter: „Niemand wird wegen fehlender Platzkapazitäten abgewiesen.“ Viele Obdachlose nehmen diese Möglichkeit jedoch nicht wahr. Auch Matthias Mieth nicht. Er geht zum Schlafen inzwischen in die Postbank. Nach dem Aufwachen kehrt er dann an die Universität zurück.
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