Ein Plädoyer fürs Weinen
Fast nie sehen wir Menschen in der Öffentlichkeit weinen und wenn doch, ist uns das unangenehm. Lieber verstecken wir uns. Wir müssen das Weinen von seiner Scham befreien, findet Kolumnistin Alicia.
Am Tisch schräg gegenüber von uns sitzen eine junge Frau in meinem Alter und ein Typ, der uns den Rücken zukehrt. Wir sind in einem super schicken Café in Kairo und beobachten die Frau, weil wir finden, dass sie gut aussieht. Offensichtlich geht es ihr aber nicht besonders gut und an irgendeinem Punkt fängt sie an zu weinen. Leise. Nicht so, dass es irgendjemand mitbekommen würde. Nicht so, dass sich jemand daran stört.
Bevor wir das Café verlassen, gehen wir – nach langem Hin und Her, weil wir uns nicht so richtig trauen – zu ihr und sagen, dass wir sie nur beobachtet haben, weil wir sie so schön finden. Sie umarmt uns alle und ist offensichtlich extrem gerührt. Und dann entschuldigt sie sich dafür, dass sie geweint hat. Es macht mich wütend. Ich halte eine kurze, spontane, unbeholfene Rede darüber, dass sie sich nicht dafür entschuldigen soll. Niemand sollte sich dafür entschuldigen. Niemals.
Andere Szene: Ich schließe die Klo-Tür, gleite innen an ihr herunter und beginne jämmerlich zu heulen.
Wieder andere Szene: Wir sitzen bei einem Freund im Wohnzimmer. Jemand fragt mich, was ich die letzten Tage so gemacht habe. Ich denke kurz nach und entscheide mich für die ehrliche Antwort: „Ich hab‘ ziemlich viel geheult“ – übrigens ist es wohl etwas einfacher „heulen“ zu sagen oder zu schreiben, als „weinen“, es klingt nicht ganz so weich. Daraufhin gibt er zu, dass er auch mal wieder gerne weinen würde und ich frage in die Runde, ob die anderen Menschen weinen. Zu meinem Erstaunen sagen alle fünf Typen (ja ich weiß, das sollte keinen Unterschied machen, es ist aber einer): Ja. Aber nicht vor Leuten.
Das ist so der Konsens, oder? Wenn man schon weint, dann bitte zu Hause. Weinen ist peinlich, ein Zeichen von Schwäche, dafür, dass man sich nicht zusammenreißen kann, dass man eine „Heulsuse“ ist und mit dem Leben nicht fertig wird. Egal, wie es dir geht, man sollte es dir nicht ansehen – wenn es nicht gut ist. Ist nicht die Frage eher, warum man sich zusammenreißen sollte? Alles hinterfragen wir: Genderkonstruktionen, das Bildungssystem, Hierarchien, monogame Beziehungen, die Kirche, den Staat. Aber Weinen in der Öffentlichkeit geht nicht. Da kann man noch so genderhinterfragend, ideologiekritisch, autonom denkend und sensibel für psychische Krankheiten sein.
Ich habe schon überall geweint. In Flugzeugen, in Zügen, auf dem Fahrrad, in Cafés, in der Uni – mitten im Seminar, das war sogar mir zu krass – und sehr viel auf Toiletten. Weil es dann doch irgendwie unangenehm ist. Was macht man, wenn plötzlich jemand kommt, den man kennt, aber nur flüchtig? Bringt man nicht die anderen Menschen in Verlegenheit? Tut man dann so, als wäre alles in Ordnung, hält brav Smalltalk und geht weiter, obwohl beide Parteien wissen, dass das irgendwie seltsam ist? Muss man sich entschuldigen, weil man in der Öffentlichkeit geweint hat und damit die Harmonie stört?
Wir sollten akzeptieren, dass Weinen ein Teil des Prozesses ist, Gefühle zu verarbeiten und lernen, damit umzugehen. Zum Lachen verstecken wir uns auch nicht auf dem Klo. Es ist kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil. Seine Gefühle nicht zu unterdrücken und nicht zu überspielen zeugt von Stärke. Davon, dass mir dein Urteil über meine Gefühlslage egal ist und ich kein Problem damit habe, dass du weißt, dass mir nicht immer die Sonne aus dem Arsch scheint. Naja. Egal vielleicht nicht ganz. Aber ich arbeite daran.
Versteht mich nicht falsch. Es sollen nicht alle Menschen überall anfangen zu weinen, auch wenn ihnen gar nicht danach ist. Aber wir sollten aufhören so zu tun, als täte es niemand.
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