Inklusion statt Sonderbehandlung
Wie können digitale Medien inklusiver gestaltet werden? Diese Frage diskutierten unter anderem Bloggerin Julia Probst und DZB-Direktor Thomas Kahlisch bei den Medientagen Mitteldeutschland 2019.
Es war wohl die diverseste Panelzusammensetzung der Medientage Mitteldeutschland 2019: Ein blinder Mensch, ein gehörloser Mensch und ein Kleinkind waren unter den sieben Personen, die am Mittwoch auf Bühne B in der Baumwollspinnerei Platz nahmen. „Digitale Barrierefreiheit: Wie können Medien allen Nutzerinnen und Nutzern gerecht werden?“ lautete der Titel der von Journalist Andreas Ulrich, tätig unter anderem beim ORB und rbb, moderierten Talkrunde.
Gebärdendolmetschen, Audiodeskription, Untertitel – es gibt vielfältige Möglichkeiten, digitale Medien allen zugänglich zu machen. Der Schlüsselbegriff lautet „Inklusion“. In dieser Gesprächsrunde – das betont Ulrich gleich zu Beginn – soll es nicht um gesonderte Medienangebote für Menschen mit Behinderung gehen. Es sollen Optionen diskutiert werden, mit denen Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen am gängigen Medienangebot teilnehmen können.
Ganz rechts auf der Bühne sitzt Julia Probst, die man fast als Internetstar bezeichnen kann. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 las die von Geburt an gehörlose Bloggerin Joachim Löw und Co. die Worte von den Lippen ab und veröffentlichte sie unter dem Hashtag #Ableseservice auf Twitter. Im Jahr darauf wurde sie als „Deutschlands Bloggerin des Jahres“ ausgezeichnet. Probst kann hunderte Alltagssituationen aufzählen, in denen sie gegenüber hörenden Mitmenschen Nachteile erfährt. „Es ist praktisch unmöglich, deutsche Filme einfach so im Kino zu schauen, weil sie fast nie mit Untertiteln versehen sind“, berichtet die 37-Jährige. Eine Gebärdendolmetscherin übersetzt Probsts Gebärdenzeichen für die restliche Gesprächsrunde simultan. Probst träumt vom flächendeckenden Angebot sogenannter Datenbrillen, die Untertitel virtuell auf die Kinoleinwand projizieren. Das würde deutschsprachiges Kino nicht nur gehörlosen Menschen, sondern auch Menschen mit geringen Deutschkenntnissen zugänglich machen.
Probst wirkt frustriert, sie scheint es satt zu haben, dass es nach Jahren des Einsatzes für Inklusion im Alltag immer noch so große Hürden gibt. Sie erzählt, dass sie bei der Ausstrahlung des Eurovision Song Contest am Sonntag die Übertragung auf ihrem Laptop im Internet schauen musste, weil im Fernsehen keine Übertragung mit Gebärdendolmetscher angeboten wurde. „Ich möchte aber zusammen mit meinen Freunden vor dem Fernseher sitzen, nicht immer eine Sonderbehandlung“, fordert sie.
Während der gesamten Gesprächsrunde schunkelt sie ihre einjährige Tochter, eingewickelt in eine Decke, auf dem Arm. Gegen Ende wird die Kleine aktiv, schaut mit wachen Augen ins Publikum, unternimmt Gehversuche und zeigt Gebärdenzeichen. „Wir müssen bei Kleinkindern anfangen und ihnen Gebärdensprache so früh wie möglich beibringen“, fordert Probst. Gebärdensprache müsse endlich als „einzig vollwertige Sprache“ für Gehörlose und Hörgeschädigte akzeptiert werden. Viel zu oft erlebe sie Situationen, in denen die sogenannte Leichte Sprache als Ersatz für Gebärdensprache abgetan wird. Leichte Sprache ist eine speziell geregelte Form des Deutschen, die beispielsweise aufgrund von kurzen Sätzen, Aktivformulierungen und Synonymvermeidung leichter verständlich sein soll. „90 Prozent der Lehrer für Gehörlose können Gebärdensprache bis heute nicht richtig anwenden“, mahnt Probst.
Ihr gegenüber sitzt Georg Schmolz, zuständig für digitale Barrierefreiheit beim MDR. Er betont, dass es „definitiv noch Nachholbedarf“ bei den Öffentlich-Rechtlichen gebe, man aber stolz sein könne auf die aktuellen Möglichkeiten. 89 Prozent des täglichen MDR-Programms sind mit Untertiteln versehen. Julia Probst reicht das nicht: Sie bemängelt die vergleichsweise schlechte Qualität von Untertiteln bei den Öffentlich-Rechtlichen hierzulande. „Die BBC schafft es, Eins-Zu-Eins-Untertitel anzubieten. Hier weichen die Untertitel oft vom tatsächlich Gesagten ab. Das ist ein deutsches Problem“, betont sie. Sie kann bei guten Lichtverhältnissen etwa 30 Prozent gesprochener Sprache von den Lippen ablesen. Oft habe sie beim Fernsehen das Gefühl, für dumm verkauft zu werden. Probst verweist auf YouTube, „sogar die haben einigermaßen gute Untertitel“. Schmolz entgegnet, man könne YouTube nicht mit dem MDR vergleichen, da die Öffentlich-Rechtlichen einen viel höheren Qualitätsanspruch an ihre Untertitel hätten. So achte der MDR beispielsweise auf einen pyramidenförmigen, zweizeiligen Aufbau zur besseren Lesbarkeit.
Doch nicht nur für Gehörlose sind viele Fernsehangebote schwer zugänglich. Thomas Kahlisch, Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde und selbst blind, bemängelt fehlende Barrierefreiheit bei den Privatsendern. Das Finale von Germany‘s Next Topmodel am Donnerstag war die erste Sendung im Privatfernsehen, für die Audiodeskription (kurz: AD) angeboten wurde. Mittels AD werden visuelle Vorgänge in Film und Fernsehen – beispielsweise Landschaften oder Mimik und Gestik von Charakteren – für blinde Menschen beschrieben. ProSieben kam damit erstmals der Forderung des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes nach, Bildbeschreibung anzubieten. Kahlisch, Präsident im Verband, witzelt: „Ich habe noch nie reingeschaut, vielleicht würde es mir ja Riesenspaß bereiten, diese Topmodels beschrieben zu bekommen.“ Er wünscht sich ein breiteres Angebot an AD, vor allem bei ProSieben, RTL und Co.
Die europäische Rechtslage schreibt es Medien vor, ihre Angebote nach konkreten Barrierefreiheitsanforderungen zu gestalten. Das beschloss das Europäische Parlament am 13. März mit dem European Accessibility Act (EAA). EU-Länder haben drei Jahre lang Zeit, die Richtlinien in ihr nationales Recht einzubinden. Kahlisch ist froh, dass die Staaten endlich dazu verpflichtet werden, die UN-Behindertenrechtskonvention, die bereits seit 2008 gilt, umzusetzen. „Es geht ja nicht nur ums Fernsehen oder den Gang ins Kino, sondern alltägliche Notwendigkeiten wie die Nutzung eines Bankautomats“, sagt Kahlisch.
Bereits zu Anfang des Panels bedankt sich Kahlisch für die inklusive Anmoderation: Das Publikum hatte den für Kahlisch nicht sichtbaren Countdown auf dem Bildschirm laut mitgesprochen, Moderator Ulrich die Sitzreihenfolge und Kleidung der Gesprächsteilnehmer beschrieben. „Das ist gelebte Inklusion, so würde ich es mir öfter wünschen.“
Das Ende des Panels nutzt Bloggerin Probst für einen Appell an alle Anwesenden: „Wir müssen uns endlich bewusst werden, dass Angebote wie AD und Gebärdensprache keinen Luxus darstellen, sondern von hunderttausenden Menschen in Deutschland täglich benötigt werden.“ Wer Barrierefreiheit heute als Luxusproblem abstempele, könne schon morgen selbst darauf angewiesen sein.
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