Der ewige Blick in den Spiegel
Kolumnistin Lisa will, dass wir jungen Frauen mehr Freiraum geben, sich selbst zu finden und uns selbst auch. Denn das ist auch ohne sexistische Vorurteile schon schwer genug.
Eigentlich ist es noch zu kalt, aber ich sitze draußen und lese. Verwirrt stolpern Käfer zwischen den einsamen Grashalmen umher. Über den blassen Rasen trägt der kühle Wind zwei Stimmen zu mir herüber. „Du lebst einfach mehr als ich“, sagt die eine, so wie man „Auf dem Foto sehe ich fett aus“ sagt. Mit genug Resignation, um ehrlich zu wirken, aber auch so viel Hoffnung, dass Widerspruch erforderlich ist. Dieser Widerspruch kommt prompt: „Ach Quatsch, du musst nur machen, worauf du Lust hast.“ Ich drehe mich um und suche nach der Quelle der Unterhaltung. Etwas weiter weg am Ufer sitzen zwei Mädchen. Sie haben zwischen sich eine Decke ausgebreitet. Das Erste beschwert sich weiter. Ihre Eltern seien zu streng. Keine Chance. Keine Freiheit zu tun, was sie eigentlich will. Aber neulich bei der Party habe Jan versucht, sie zu küssen. Der Stolz in ihrer Stimme erinnert mich an Knutschflecken. Das Urteil der zweiten Schülerin dämpft die Freude, die kurz in der Luft liegt: „Der macht sich auch echt an Jede ran, so notgeil.“
Einerseits fühle ich mich schlecht, dass ich die beiden belausche, während ich eigentlich nur am Elsterufer mein Buch lese. Andererseits scheinen beide eine Rolle zu spielen, die unmöglich nur für sie selbst gedacht sein kann. Als würden sie sich nicht wirklich miteinander unterhalten, sondern für den zufälligen Zuhörer, also mich. Vielleicht führen sie auch einfach nur eine schlechte Unterhaltung, trotzdem fühle ich mich an mein 14-jähriges Ich erinnert. Denn ich habe ganz schön viele Rollen gespielt. Mit 14 war ich wohl ein bisschen wie die Erste. Etwas naiv, aber sehr gierig auf das, was noch kommt. Nach zwei Gläsern Sekt war ich betrunken. Mit 15 fing ich an, Kette zu rauchen und ausschließlich schwarzen Kaffee zu trinken, was mir mit 16 eine Magenschleimhautentzündung einbrachte. Ungefähr zu der Zeit zitierte ich dauernd Kerouac und Kafka, was extrem nervig und beunruhigend für meine Eltern gewesen sein muss. Ich trug roten Lippenstift und grundsätzlich bauchfreie T-Shirts. Ob das wirklich ich war? Und wenn nicht, bin ich es dann heute?
In einer Episode seiner BBC-Fernsehreihe „Ways of Seeing“ von 1972 beschäftigt sich John Berger mit Darstellungen von Frauenkörpern in der westlichen Kunstgeschichte. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Frauen in diesen Bildern, obwohl ohne Kleidung, nie wirklich nackt seien, denn die beobachtende Perspektive verschleiere den Blick auf den wahren Menschen. Eine Frau zu sein, bedeute also, sich permanent selbst zu beobachten. Frauen beobachten, wie sie selbst beobachtet werden. Ich beobachte also, wie ich selbst beobachtet werde und diese Mädchen auf der Decke neben der Sachsenbrücke auch. Denke ich deswegen schon so lange über dieses Gespräch nach, dass ich mein Buch und die Kälte längst vergessen habe? Weil ich nachfühlen kann, wie es ist, in einer Rolle gefangen zu sein, die man sich selbst mit Hilfe der Gesellschaft geschaffen hat?
Dann müsste es mir aber bei Jungen in ihrem Alter oder Männern genau so gehen. Was es heißt, ein Mann zu sein, ist vielleicht noch strenger abgesteckt. Trotzdem habe ich bei ihnen nicht das Gefühl, sie würden schauspielern. Wenn ein Mann sich klischeehaft maskulin verhält, dann nervt mich das vielleicht, aber es kommt mir nicht in den Sinn, dass er unehrlich ist. Dagegen urteile ich, wir bei Frauen und besonders bei jungen Frauen dauernd: Schminken sie sich und tragen Kleider sind sie Tussis, spielen sie Videospiele sind sie Möchtegern-Cool-Girls und wenn sie lesen, dann tun sie das bestimmt nur, um im Buchladen ihren Traumtypen zu treffen. Ein besonders tolles Lob ist es, „nicht wie die anderen Mädchen“ zu sein. Es gibt für junge Frauen also kein authentisches Interesse, keine Leidenschaft, keine ehrliche Daseinsform. Denn all das sei nur Show, um die Männer in ihrer Umgebung zu umgarnen. Ich spreche ihnen diese Authentizität ab, genau so wie mir selbst.
Also muss ich mein Unbehagen vielleicht etwas zurückschrauben, mit ihnen und mir selbst. Ich muss ihnen die Freiheit lassen, sich selbst zu finden, nicht die Douglasverkäuferinnen belächeln, auch nicht die jungen Frauen mit Blumenkronen auf Festivals und vor allem nicht mein junges und jetziges Ich. Denn Identitäten anzuprobieren wie komische Kleidung in der Umkleidekabine macht auch Spaß. Es gibt wohl nichts Langweiligeres als einen Menschen, der denkt, sich selbst ganz genau zu kennen. Wenn ich heute im Buchladen an „On The Road“ vorbeilaufe suche ich wie verrückt nach der richtigen Seite, mit dem vertrauten Zitathabe wieder angefangen auf WG-Partys Jules Mumm Rosé anzuschleppen. Ich bilde mir ein, dass er mir immer noch so zu Kopf steigt wie damals. Ich stehe auf und laufe an den Mädchen vorbei, die sich mittlerweile über Lehrer unterhalten. Alles ist gut. Hoffentlich hält sie sich von diesem Jan fern.
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.