Das Abenteuer, das wir brauchen
Alltag verspricht Routine und ein eigenes Bett, Abenteuer versprechen Aufregung und Gefahr. Doch entweder Alltag oder Abenteuer? Kolumnistin Hannah fand auf der Eisenbahnstraße beides.
Träge rattert die Straßenbahn an mir vorbei und der Geruch sorgsam gerösteten Dönerfleischs mischt sich mit dem von Abgasen und Zigarettenrauch. Zwei Frauen mit Kopftuch und Plastiktüte in der Hand schlängeln sich an mir vorüber und Studierende schlürfen Kaffee mit Hafermilch. Ich bleibe vor der Obst- und Gemüseauslage eines arabischen Supermarkts in der Eisenbahnstraße stehen und gucke mir alles interessiert an. Meine Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf einen Sack voller kleiner grüner Früchte, die auf mich wie grüne Mini-Aprikosen wirken. Ein Pärchen neben mir unterhält sich auf arabisch und nimmt schließlich einen Sack der Mini-Aprikosen. Zögerlich spreche ich die beiden an. Was das denn sei und wozu man das esse, will ich wissen. Wie sich herausstellt, sind die Früchte keine Mini-Aprikosen, sondern unreife Pflaumen, welche als Snack für zwischendurch mit Salz gegessen werden. Ich habe noch nie einen der arabischen Supermärkte betreten und merke, dass ich mich überwinden muss, mir ebenfalls einen Sack zu schnappen, um damit zur Kasse zu gehen. Drinnen verzaubern mich Reissäcke, eingelegtes Gemüse, sämtliche Gewürze sowie verführerisch fluffig wirkendes Fladenbrot. An der Kasse angekommen sind meine Arme voll und der Kassierer lacht zufrieden.
Auf der Eisenbahnstraße gibt es die unterschiedlichsten Verkaufskonzepte: vollgestopfte arabische Supermärkte, einen Korea-Markt mit säuberlich sortiertem Sortiment und gemütliche Cafés, in denen an verträumten Sonntagen vegane Köstlichkeiten verspeist oder aber abends mit Bier und Salzstangen in Rauch und Leichtigkeit versunken werden kann. Auch ein russischer Lebensmittelladen und ein Bioladen, der hohe Qualität und Preise verspricht, finden ihren Platz neben den sich endlos erstreckenden Dönerläden. Und dann wären da natürlich noch die zahlreichen Spätis, die zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Sterni und Mate locken. Egal, woher die Menschen also stammen und was sie verkaufen, die Eisenbahnstraße empfängt sie mit offenen Armen. Doch sieht man nur selten Menschen vom Café die Straße überqueren und in einen der arabischen Läden verschwinden. Die meisten Menschen tummeln sich zwar gerne im Gewimmel und genießen das bunte Treiben, doch bleiben lieber unter sich.
Dass ich mich zunächst nicht so recht traute, den Laden samt Pflaumen zu betreten, lag wohl daran, dass ich Angst hatte, fehl am Platz zu sein, die Regeln nicht zu kennen und nicht ohne weiteres mitspielen zu dürfen. Als ich mich umblickte, bemerkte ich, dass sich außer mir nur Menschen, die aus dem arabischen Raum zu stammen schienen, im Laden befanden. Ich war also scheinbar nicht die einzige, die zu schüchtern war, um unbekanntes Terrain zu entdecken. Ungern wagt man sich schutzlos in eine unbekannte Gruppe. Neue Leute lerne ich schließlich oft nur kennen, wenn ich in eine neue Stadt ziehe und jedes Mal vor einem ersten Mal im Tanzunterricht oder in der Kletterhalle schlottern mir die Knie. Betritt man den auf der anderen Straßenseite liegenden Konsum, warten dort die so vertraut gewissenhaft sortierten Nudelpackungen, Tomatendosen und hinter Glas gekühlter Joghurt.
„Ich muss nicht denken, wenn ich nur bezahlen kann“ – diese Worte, gedruckt auf einem Kassenbon, drückte mir meine Schwester gestern in die Hand. Routine ist einfacher als denken. Routine wird irgendwann eintönig, aber sie bleibt unkompliziert. Das Unbekannte ist anstrengend. Es wirkt gefährlich in seiner Unberechenbarkeit, auch wenn diese nur das Vorfinden von Drei-Kilo-Reissäcken, anstelle von 500-Gramm-Packungen bedeutet. Abenteuer ist für das Nicht-Alltägliche reserviert.
Auf Reisen fasziniert uns der Drei-Kilo-Sack Reis, doch zuhause wollen wir 500-Gramm-Packungen. Dort wollen wir das tun, was wir immer tun: Im eigenen Bett schlafen, das immer gleiche Shampoo benutzen, einem Rhythmus nachgehen und gute Freunde treffen. Doch manchmal sollten wir vielleicht das Abenteuer im Alltag wagen und ein paar unbekannte Früchte in einem arabischen Supermarkt erstehen.
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