Diashow der Vergangenheit
Kolumnist Paul sagt Leipzig adé. Seine Erinnerungen fließen dahin und fühlen sich einzigartig an. Und doch geht es vielen so. Denn gerade die gemeinsamen Singularitäten sind das Besondere der Welt.
Jeder noch so hässliche Ort kann geliebt werden, und er wird es auch. Ich bin mir sehr sicher, dass auch schon um Sexau oder Oer-Erkenschwick die ein oder andere Träne vergossen wurde. Nicht, dass ich diese Orte kennen würde, lediglich ihre Namen haben es mir in ihrer Eigentümlichkeit angetan. Wenn sich die Erinnerungen, vom Hirnstamm von den negativen geschieden, an der Stirn sammeln und langsam in die Augen sickern, wo sich die kleinen Rinnsale vereinen und den Verlust wegzuspülen versuchen, spürt man die Liebe zur Heimat, die es zu verlassen gilt, ganz tief im Herzen.
Die Straßen und Plätze, die einem auf den ersten Blick, beim ersten Besuch, so fremd und eigen waren, sind an einem Moment, an den man sich nicht erinnern kann, aus fremd sein eigen geworden.
Die Augenblicke, in denen Kreise sich schlossen und aus dem Weg rechts des Waldes und dem Weg links des rosa Hauses mit dem absplitternden Putz ein Rundweg wurde und man ganz überrascht stehen blieb, da sich ein weiteres Puzzlestück ins Stadtbild fügte. Die unbewusste Regelmäßigkeit, gespeist aus Wohlgefühl, die aus Kneipe Stammkneipe und Versehen Geheimtipp machte: Oder aber, wenn man nach Jahren eine Straße weiter hinunterlief als je zuvor und eine ganz neue Stadt in seiner schon bekannten Stadt entdeckte.
Die Erlebnisse verschmelzen dank unserer eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten zu einer bewegten Diashow der Vergangenheit. Bilder, von Dreck und Belanglosigkeit befreit, werden zum unbedarften Nostalgieren aneinandergereiht.
Für mich ergießen sie sich über die flackernden Lichteinbrüche mit Vogelgezwitscher im Auenwald auf dem Weg zum Cossi, wobei das Handtuch fast in die Speichen gerät, die frisch applizierte Sonnencreme durch den Schweiß wieder den Poren entweicht und ein ums andere Mal der Weg an der vor Jahren abgerissenen Brücke endet, an denen nur ein Schild mit Eisvogel steht, das auf seine Brutzeit aufmerksam macht.
Sie zeigen durchschüttelte Wege, die mein verstocktes Rad etwas auflockerten, dafür sorgten, dass ich definitiv eine Schraube locker habe und trotzdem meine Liebe zum Kopfsteinpflaster nicht schmälern. Ganz im Gegensatz, die Widrigkeiten sind, was an dem Gedankenstamm hängen bleibt und das Mosaik vervollständigt.
Genauso die Zeit, in der eine Gruppe junger Leute sich viele Stunden zusammensetzte, Material diskutierte und unter grenzwertigem Schlafentzug ein Papier herausbrachte, was dann unter größter Überzeugungsarbeit kostenlos an die Akademiker und Akademikerinnen verteilt werden musste, als sei es ein Schmuddelheftchen. Gerade in der Zeit, in denen in Reudnitz die Hundehaufen wieder weich werden, auch Frühling genannt, glänzte die Stadt Jahr um Jahr für mich.
Für mich ist dies hier keine Unbekannte. Es ist Leipzig. Doch gibt es an jedem anderen Ort genau die gleichen Momente, eben nur für andere Menschen.
Und nun bin ich gespannt, wofür sich die Tränen der Zukunft sammeln. Denn weil ich nicht weinen kann, schreibe ich. Aber in diese Zeilen fließt jede Träne, die ein Lachen der Vergangenheit war.
Die Tränen sind für alle die gleichen, sie werden nur für andere Farben und Formen vergossen. Für andere Freundschaften, für andere Orte und andere Missgeschicke, die im Kern aber die gleichen sind.
Um es mit Andi Möller zu sagen: „Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien.“
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