„Der Rückgang der Arten ist unbestreitbar“
UFZ-Agrarwissenschaftler Josef Settele war maßgeblich am Anfang Mai veröffentlichten Bericht des Weltbiodiversitätsrats über den Zustand unserer Ökosysteme beteiligt. Wir haben mit ihm gesprochen.
Anfang Mai verabschiedete der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) in Paris mit dem globalen Assessment die seit 2005 umfassendste Beschreibung des Zustandes unserer Ökosysteme und ihrer Artenvielfalt. Die Botschaft des Berichts ist eindeutig: Wenn sich an der derzeitigen Situation nichts ändert, droht in den nächsten Jahrzehnten ein weltweites Artensterben. student!-Redakteur Hagen Küsters sprach mit Professor Josef Settele vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) über die zentralen Befunde des Berichts und welche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Impulse von diesen Ergebnissen ausgehen. Als einer von drei Co-Vorsitzenden war der Agrarwissenschaftler maßgeblich daran beteiligt, die internationalen Expertisen in einem umfangreichen Zustandsbericht zu bündeln und festzuhalten.
student!: Laut Bericht werden bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten innerhalb der nächsten Jahrzehnte durch den Einfluss des Menschen an den Rand der Ausrottung gedrängt. Expert*innen sprechen vom sechsten Massenaussterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde. Was unterscheidet dieses von den Vorigen?
Settele: Der große Unterschied ist, dass dieses Massenaussterben nicht wie zuvor durch Meteoriten oder große klimatische Veränderungen verursacht wurde, sondern vom Menschen. Wir Wissenschaftler sprechen allerdings nicht vom sechsten Massenaussterben. Der Begriff wird zwar oftmals von der Presse herangezogen, aber es gibt eine fachliche Definition dafür: Dreiviertel der Arten müssten vom Aussterben betroffen sein. Da dies nicht gegeben ist (von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit sei rund eine Million vom Aussterben bedroht, Anm. d. Red.), sprechen wir in unserem Bericht von einer „extinction crisis“ (dt. „Krise des Aussterbens“, Anm. d. Red.).
In welchem Zustand befinden sich die Ökosysteme der Erde zurzeit?
Bei allen Ökosystemen der Erde sind gegenwärtig starke Einflüsse durch die menschliche Nutzung zu verzeichnen. Zwei Drittel der Meeresökosysteme und drei Viertel der Landoberfläche sind betroffen. Es gibt nur sehr wenige Bereiche, wie Gegenden in der Arktis, die nicht durch den Menschen beansprucht sind.
Der Mensch hat also rund um den Globus einen starken Einfluss auf die Ökosysteme. Was muss getan werden, um den Lebensraum bedrohter Tier- und Pflanzenarten zu sichern?
Wichtig ist ein transformativer Wandel in allen Bereichen, der zur globalen Nachhaltigkeit beiträgt: insbesondere bei Produktion, Import, Export und Konsum von Energie und Nahrung. Mit dem gemeinsam erarbeiteten Assessment haben alle beteiligten Regierungen ein Konsensdokument geschaffen. Das ist schon ein ziemlicher Erfolg. Nun müssen individuelle und kollektive Maßnahmen wie die Ausweisung von Naturschutzgebieten oder die Umgestaltung der Landnutzung erfolgen.
Gibt es explizit in Leipzig Arten, die vom Aussterben bedroht sind?
Es gibt eine gefährdete Schmetterlingsart im Leipziger Auwald, der Maivogel, die stark vom Aussterben bedroht ist. Bundesweit gibt es noch drei Populationen. Das bedeutet, Leipzig beziehungsweise Sachsen stehen in der Verantwortung, diese Population aufrechtzuhalten.
Wie genau ist es möglich, auf regionaler Ebene gegen das Artensterben voranzugehen?
Auf regionaler Ebene kann man immer etwas tun: Das beginnt bereits mit Aktionen wie Fridays for Future oder den Volksbegehren zur Artenvielfalt. Eine zentrale Rolle spielt natürlich das eigene Konsumverhalten. Hier ist ein jeder gefragt. Der Schutz der Artenvielfalt ist aber auch im heimischen Garten möglich. Es muss nicht immer der Englische Rasen sein.
Der IPBES wird derzeit von 132 Mitgliedsstaaten getragen und leistet wissenschaftliche Politikberatung. Welche Forderungen stellt der Bericht an die Politik?
Wir verstehen uns als politikberatende, aber nicht als Politik vorschreibende Organisation. Das heißt, wir geben keine Empfehlungen, sondern wir zeigen Optionen auf. Dazu zählt die im Bericht unter „Governance“ erwähnte Regierungsführung. Wichtig ist, dass die verschiedenen Ministerien kooperieren. Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Und dieses Problem ist fast überall auf der Welt zu erkennen. In Deutschland wäre beispielsweise eine wesentlich intensivere Zusammenarbeit der Bundesministerien für Umwelt, Landwirtschaft, Forschung und Finanzen für das Anliegen sehr wichtig. Ebenso eine engere Kooperation zwischen NGOs, der Wirtschaft und Gesellschaft. Auf diese Weise könnte man mitunter Einfluss auf die Preispolitik und damit auch das Konsumverhalten nehmen.
Weltweit gibt es Skeptiker*innen, welche die menschengemachte globale Erwärmung leugnen. Auch dem IPBES wird von Kritiker*innen vorgeworfen, er würde ein zu düsteres Bild vom Zustand des Lebens auf der Erde zeichnen. Wie entgegnen Sie dieser Kritik?
Der Bericht ist eine Zusammenstellung dessen, was wir momentan wissen: Der Rückgang der Arten ist unbestreitbar. Und dass der Klimawandel hierbei eine Rolle spielt, ist offensichtlich. Wie man das bewertet, das ist eine ganz andere Frage. Fakt ist, dass eine Million Arten in den nächsten Jahrzehnten dem Aussterben geweiht sind, wenn wir nichts ändern.
Wieso finden sich unter den Autor*innen des Berichts neben Naturwissenschaftler*innen auch Sozialwissenschaftler*innen?
Die Zusammenarbeit beider Wissenschaften ist zwingend für die Erarbeitung des Assessments gewesen. Wir können mithilfe der Naturwissenschaft zwar die Ergebnisse liefern, aber wenn es um die Umsetzung geht, brauchen wir die Sozialwissenschaft. Also Leute, die sich mit dem Sozialsystem und der Politik beschäftigen und dabei helfen, die Inhalte zu transportieren.
Für das Assessment wurden erstmals in großem Umfang das Wissen indigener Völker und regionales Know-how herangezogen. Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Unter indigenem Wissen fassen wir Wissenskomponenten ethnischer Minderheiten hinsichtlich des Artenschutzes und der Nutzung der Natur – beispielsweise Medizinalpflanzen – zusammen. Dieses Wissen findet sich unter anderem bei Volksgruppen in den Tropen, in Amazonien oder in der Arktis. Regionales Know-how hingegen ist weit gefasst: Das können auch Erfahrungen und Interessen lokaler Landwirte, Schäfer oder Gemeinden sein. Unser Ziel war es, sowohl das indigene als auch das regionale Wissen, das zumeist nicht schriftlich vorliegt, zu erfassen und in den Bericht zu integrieren.
Sie leiteten die dreijährigen Arbeiten als einer von drei Co-Vorsitzenden. Welche Aufgabenbereiche waren damit verbunden?
Als Co-Vorsitzender habe ich vor allem eine moderierende Rolle eingenommen. Es ging also weniger darum, den eigenen Forschungsschwerpunkt voranzubringen, sondern die verschiedenen Aspekte, Evaluationen und Meinungen der Kollegen zusammenzutragen. Das war definitiv ein interaktiver und zugleich intensiver Prozess. Der zentrale Aufgabenbereich bestand also darin, die Wissenschaftler zu koordinieren, Inhalte voranzutreiben sowie den über 1.500 Seiten umfassenden Hauptbericht gegenzulesen.
Titelfoto: David Kreilinger
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