„Wir möchten wenigstens eine Erinnerung haben“
Immer wieder werden in Leipzig weitere Stolpersteine zum Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus verlegt. Wie für die Familie Kalter in der Pfaffendorfer Straße 52 – ein Porträt.
In Leipzig liegen 549 Stolpersteine an den ehemaligen Wohnorten von Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet worden sind. Eine Arbeitsgruppe koordiniert die stetige Verlegung neuer Steine in Zusammenarbeit mit dem Kölner Bildhauer Gunter Demnig, der auch für andere Städte Stolpersteine anfertigt und einlässt. Am 13. Mai wurden unter anderem für die Familie Kalter Stolpersteine verlegt. 26 Angehörige der jüdischen Familie lebten einst in Leipzig. Nur sieben von ihnen überlebten die Shoah. Ihre Nachkommen erinnerten vor dem ehemaligen Wohnsitz der Kalters in der Pfaffendorfer Straße 52 an das Ehepaar Oskar und Klara Kalter und ihre Söhne Manfred, Joachim und Herbert. Der US-amerikanische Craig Kalter, Joachims Sohn, sprach über die Familiengeschichte. Er erinnerte sich daran, wie er im Jahr 1968 zusammen mit seinem Vater das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg nach Leipzig reiste – und dass es damals noch keine Aufarbeitung der Geschichte, kein Verantwortungsgefühl gab. Von ihm stammen auch die historischen Fotografien und Informationen über den Werdegang der Familie Kalter.
Oskar Kalter wurde 1891 in Tarnów, in Polen geboren. Mit nur 19 Jahren kam er nach Leipzig; wegen der besseren wirtschaftlichen Situation und der großen jüdischen Gemeinschaft. Hier arbeitete er als Kaufmann und Textilhändler. Seine Eltern und Geschwister folgten ihm wenige Jahre später nach Leipzig. Auch Oskar Kalters in Leipzig geborene Ehefrau Klara Hilsenrath hatte polnische Wurzeln. Die beiden lernten sich 1920 kennen und ließen sich bald darauf im Zoo trauen, nicht weit entfernt von ihrem Haus. Das Ehepaar bekam drei Söhne: Manfred, Joachim und Herbert. Die 26-köpfige Familie Kalter war sehr eng miteinander verbunden; häufig feierte sie zusammen den Sabbat. Nachdem Hitler 1933 an die Macht kam, flohen einige von Oskars und Klaras Geschwistern nach Frankreich und Argentinien, in die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika. Doch wie viele andere hielten Oskar und Klara die verschlimmerten Bedingungen für die jüdische Bevölkerung für eine Phase, die nicht lange andauern würde.
„Für zwei Tage packen“
1938 waren Oskar und Klaras Söhne 17, 15 und 12 Jahre alt, als die Familie Deutschland aufgrund der Polenaktion verlassen musste. Damals beschloss das polnische Parlament, polnischen Staatsbürger*innen, die im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Denn mehr als 57 Prozent der jüdischen Ausländer*innen in Deutschland kamen aus Polen – die polnische Regierung hatte Angst vor einer Massenmigration dieser circa 72.000 Menschen. Nur wessen Pass einen Prüfvermerk des polnischen Konsulats enthielt, war zur Einreise nach Polen berechtigt. SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich ließ zwischen dem 28. und 29. Oktober 1938 zahlreiche jüdische Personen polnischer Staatsangehörigkeit verhaften. Dank der Judenkartei wusste die Gestapo auch, wo Familie Kalter lebte und klopfte an deren Tür. „Für zwei Tage packen“ – mehr Informationen bekamen sie nicht. Zwei Tage später erreichten sie mit dem Zug Oskar Kalters Heimatort Tarnów. Von dort aus suchten Oskar und Klara zehn Monate lang nach einer Möglichkeit zur Flucht. Doch sie erhielten keine Visa fürs Ausland.
Die Grausamkeit des Krieges
Im Juli 1939 durfte Oskar, wie einige andere während der Polenaktion abgeschobenen Menschen, nach Deutschland zurückehren, um seinen Besitz zu verkaufen. Die Erlöse wurden auf Sperrkonten deponiert.
Von seiner Familie per Telegramm gewarnt, konnte er noch mit dem letzten Zug vor Kriegsbeginn nach Tarnów zurückkehren. Nach dem deutschen Überfall auf Polen floh die Familie weiter nach Osten, größtenteils zu Fuß. Auf die Sicherheit Russlands hoffend, liefen Oskar, Klara, Manfred, Joachim und Herbert teilweise 14 Stunden am Tag. Dabei begegnete ihnen die Grausamkeit des Krieges: Deutsche Bomber, die Zivilbevölkerung auf der Straße erschossen. Nach einigen Tagen brach Klara zusammen und die Kalters suchten Zuflucht bei einer jüdischen Familie. In der Nacht griffen die Deutschen den Ort an, drangen in das Haus ein und erschossen dort drei Menschen. Alle Überlebenden des Ortes wurden versammelt, Männer und Frauen voneinander getrennt. Als einzige Frau der Familie schrie Klara verzweifelt nach ihrem Mann und ihren drei Söhnen. Ein Offizier gab nach, Klara durfte zum Rest der Familie ─ andere wurden erschossen, als sie diesen Wunsch äußerten. Die Kalters mussten nach Tarnów zurückkehren und dort Zwangsarbeit verrichten.
Zwangsarbeit und Tod
Joachim, damals 17 Jahre alt, musste drei Stunden Fußweg von Dębica – einem Ort östlich von Tarnów ─ entfernt Bäume fällen. Der dortige Waffen-SS-Truppenübungsplatz sollte erweitert werden. Der Alltag war durch harte Arbeit, wenig Essen und viel Gewalt seitens der SS-Offiziere geprägt. Einmal zwang ein SS-Offizier einen anderen Zwangsarbeiter dazu, Joachim zu verprügeln. Als dieser unter den Schlägen zusammenbrach, wurde er gezwungen, den anderen ebenfalls so zuzurichten. Anschließend sollten die beiden zurück an die Arbeit gehen – und die durch die Prügelei verlorene Zeit nachholen.
Im November 1942 wurde Klara in das Vernichtungslager in Bełżec transportiert und dort ermordet. Viele Jahre gingen Joachim und Herbert davon aus, dass Manfred, mit 22 Jahren der älteste der drei Brüder, ebenfalls zu dieser Zeit ermordet worden war. Erst 2009 tauchten Dokumente auf, nach denen Manfred in Tarnów verhaftet worden und nach Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Lager zur vorübergehenden Unterbringung sogenannter „Displaced Persons“ registriert war. Trotzdem hörten die beiden Brüder nach 1942 nie wieder etwas von ihm.
„Ich bin der einzige Überlebende der Familie.“
Im November 1943 wurden Oskar und Herbert nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Oskar Kalter wurde im Alter von 52 Jahren in den Gaskammern ermordet. Seine eintätowierte Nummer lautete 161311. Herbert musste in Auschwitz-Monowitz in den Fabriken der IG Farben Zwangsarbeit leisten.
Joachim erfuhr von der Deportation der beiden. Er wusste, was in Auschwitz geschah und dachte: „Ich bin der einzige Überlebende der Familie.“ Erst Monate später erfuhr er, dass sein Bruder Herbert lebte. Im Juli 1944 wurde auch Joachim nach Auschwitz deportiert. Herbert gelang es, seinen Bruder nach Auschwitz-Monowitz zu holen.
Am 18. Januar 1945 wurden die beiden auf einen Todesmarsch in das Konzentrationslager Buchenwald geschickt. Zehn Tage dauerte der Marsch. Die Gefangenen liefen durch hohen Schnee, nur mit Holzschuhen und dünnen Häftlingsuniformen bekleidet. Kein Essen, kein Trinken, verfolgt von Hunden, damit sie schneller liefen. Wer wie die beiden lebend in Buchenwald ankam, war gezwungen, in einen abgeschlossenen Zug ohne Fenster zu steigen. Die Rote Armee vermutete darin deutsche Soldaten – und schoss auf die jüdischen Gefangenen. Ein Feuer brach aus, überall Rauch. Herbert und Joachim gelang es, die Tür aufzubrechen und den Zug zu verlassen.
Anschließend wurden die Brüder in ein Außenlager nach Langenstein bei Halberstadt deportiert: Hier wurde Schwerstarbeit eingesetzt, um die Menschen zu ermorden. Joachim kam auf die Krankenstation und wurde dort bei der Evakuierung des Lagers im April 1945 sich selbst überlassen. Herbert legte sich für drei Tage unter die Toten, darauf wartend, dass die letzten SS-Kommandos das Lager verließen. Am 11. April 1945 wurde Langenstein von den US-Amerikanern befreit.
Ein neues Leben nach dem Krieg
Die Brüder schlugen sich nach Lyon zu Verwandten durch. Von hier schrieb Joachim an seinen Onkel Josef Kalter am 7. Juni 1945:
„[…] uns beiden kommt es heute noch wie ein Wunder Gottes vor, den Klauen dieser Unmenschen mit ihren sadistischen Ausrottungsmethoden entronnen zu sein. Du verlangst Details über unsere Erlebnisse der letzten Jahre und möchte ich nur so viel sagen, dass man Bücher darüber schreiben könnte und nachdem man aber gelesen hätte, könnte man es doch nicht glauben, dass überhaupt so etwas im Zeitalter der Zivilisation des 20. Jahrhunderts überhaupt passieren konnte. […] Vielleicht habt Ihr Bilder von Papa, Mutti, Fredi und uns. Wir möchten wenigstens eine Erinnerung haben.“
Ein Jahr später fahren die beiden mit dem Frachter nach New York, um dort ein neues Leben zu beginnen. Joachim und Herbert finden zunächst Arbeit in der jiddischsprachigen Pelzindustrie; sie bleiben den Rest ihres Lebens in den USA. Auch Craig Kalter ist dort geboren worden. Er betonte in seiner Rede die besondere Rolle von Stolpersteinen in Deutschland: „Ein Schritt in Richtung einer Welt ohne Hass und Vorurteile.“ Durch sie könnten die Opfer des Nationalsozialismus‘ für immer einen Abdruck in den Städten hinterlassen, die einmal ihr Zuhause waren ─ und nicht vergessen werden.
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.