Kein Einzelfall
Über den Protest gegen die Abschiebung eines Mannes Mitte Juli in der Hildegardstraße wurde viel berichtet. Wir liefern nun Hintergrundinformationen, auch über Abschiebungen in Sachsen allgemein.
Was wir bisher berichtet haben
Am Morgen nach dem Protest konntet ihr auf unserer Website einen Bericht über die Ereignisse rund um die Abschiebung und die Sitzblockade von einer Redakteurin vor Ort lesen. Einen Tag darauf haben wir einen persönlichen Erfahrungsbericht zu der Nacht veröffentlicht.
Was wir nun wissen
Die Polizei Sachsen gab in einer Medieninformation an, dass in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli elf Beamt*innen leicht verletzt wurden. Zu Verletzten auf Seiten der Demonstrant*innen konnte die Polizei keine Aussage treffen, da noch keine Anzeigen vorlagen. In der besagten Nacht wurden drei Personen festgenommen, weil sie Flaschen oder Steine geworfen haben sollen, zwei befinden sich noch in Untersuchungshaft.
Die Polizei gab an, dass die Mutter des Mannes, der an dem Abend von der Polizei abgeholt wurde, beim Betreten der Wohnung schreiend auf dem Boden saß. Daraufhin riefen die Beamt*innen laut Polizeimitteilung einen Krankenwagen, da sie vermuteten, die Frau habe einen Kreislaufkollaps erlitten. Auf einer Kundgebung am darauffolgenden Abend sprach die Mutter des Mannes selbst und berichtete, die Polizei habe sie geschlagen und ihren Sohn gewaltsam aus der Wohnung geholt.
Zu der angemeldeten Kundgebung am Abend des 10. Juli versammelten sich in der Hildegardstraße einige hundert Menschen, um ihre Solidarität mit dem Mann und seiner Familie zum Ausdruck zu bringen. Anschließend zogen Demonstrant*innen durch die Straßen des Viertels, in denen es erneut ein großes Polizeiaufkommen gab. Als die Demonstration bereits beendet war, kesselten Beamt*innen einige auf dem Gehweg der Eisenbahnstraße sitzende Personen ein. Nach Angaben der Polizei Sachsen handelte es sich um 29 Menschen, die nach mehrfachem Auffordern nicht den Gehweg verlassen wollten. Deshalb habe man ihre Personalien aufgenommen, um Anzeige wegen Ordnungswidrigkeit zu erstatten.
Am 12. Juli veröffentliche das antirassistische Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz einen offenen Brief an den Polizeipräsidenten Torsten Schultze. Die Unterzeichner*innen waren der Rechtsanwalt und künftige Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek, die Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel und Marco Böhme sowie die SPD-Politikerin Irena Rudolph-Kokot. Sie berichten in dem Schreiben von verletzten Demonstrant*innen. Die Anwendung von Gewalt und die Verletzungen sowohl auf Seiten der Polizei als auch der Demonstrant*innen seien nicht nachvollziehbar, weshalb sie Polizeipräsident Schultze sowie die Einsatzleitung zu einem Gespräch bitten. Noch am selben Tag veröffentlichte die Polizei eine Reaktion auf den Brief. Sie teilte mit, dass sich Schultze zu dem Zeitpunkt noch im Urlaub befand, jedoch bereits Kenntnis von dem Schreiben habe. „Er begrüßt das Gesprächsangebot und wird es selbstverständlich wahrnehmen.“ Mittlerweile steht nach Aussage von Kasek ein Termin für dieses Gespräch fest. Es soll kommende Woche stattfinden.
Im Folgenden wollen wir euch ein paar grundlegende Fragen zu Abschiebungen in Sachsen beantworten. Die Antworten beruhen auf Informationen des Sächsischen Flüchtlingsrats, des sächsischen Staatsministeriums des Innern und auf der Antwort auf eine Kleine Anfrage von Juliane Nagel (DIE LINKE) an letzteres.
Wie verlaufen Abschiebungen normalerweise?
Da jede Abschiebung anders ist, lässt sich keine Regel für alle Abschiebungen definieren. Den „standardmäßigen“ Verlauf einer Abschiebung beschreibt Mark Gärtner vom Sächsischen Flüchtlingsrat jedoch wie folgt: „Die Polizei kommt zur Wohnung, Gemeinschaftsunterkunft oder Erstaufnahmeeinrichtung, informiert die Personen, die abgeschoben werden sollen, nicht selten werden sie gefesselt und die Personen werden zum Flughafen zugeführt.“ In manchen Fällen wird ein zentraler Sammelpunkt, meist in einer Großstadt, organisiert, an dem Menschen von den Polizeiautos in Busse verfrachtet werden, erklärt Gärtner. „Eine amtsärztliche Untersuchung ist vorgesehen, wird aber nicht immer durchgeführt.“ In den meisten Fällen werden Abschiebungen früh morgens oder nachts durchgeführt, da davon ausgegangen wird, dass sich die entsprechende Person dann Zuhause aufhält und möglichst wenige Aufmerksamkeit erregt wird. Betroffene werden nicht über den Zeitpunkt ihrer Abschiebung informiert und haben dementsprechend meist keine Zeit persönliche Dinge einzupacken.
Wie viele Menschen werden aus Sachsen abgeschoben?
Von Anfang des Jahres 2019 bis zum 30. Juni wurden insgesamt 855 Menschen aus Sachsen abgeschoben. Rund 520 dieser 855 Abschiebungen beruhten auf Absatz 1 Paragraf 58 im Aufenthaltsgesetz. Nach diesem Paragrafen wird ein Mensch abgeschoben, wenn „wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint“ .Die anderen etwa 320 der 855 Menschen wurden nach Absatz 3 des Paragraf 58 im Aufenthaltsgesetz abgeschoben. Absatz 3 kommt im Vergleich zu Absatz 1 meist in schwerwiegenderen Fällen zum Zug. Beispielsweise wenn sich der betreffende Mensch „auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet“ oder „zu erkennen gegeben hat, dass er seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen wird“ (Abs. 3 Paragraf 58 AufenthG).
In welche Länder werden die meisten Menschen aus Sachsen abgeschoben?
Von den 421 Menschen, die im ersten Quartal, also vom 1. Januar 2019 bis zum 31. März 2019 aus Sachsen außerhalb der EU abgeschoben wurden, kamen die meisten (66) nach Georgien, gefolgt von Tunesien (27) und Marokko (26).
Der größte Anteil, also 73 von den 421 Personen wurden jedoch im Dublin-Verfahren abgeschoben. Das heißt, sie wurden in die EU-Mitgliedsländer zurückgeführt, die rechtlich für ihren Asylantrag verantwortlich sind. Meist sind das die Länder, in denen Migrant*innen zum ersten Mal in einem EU-Mitgliedsstaat registriert werden. Die häufigsten Zielländer waren Italien (14) und Polen (14).
Die Herkunftsländer der abgeschobenen Menschen werden nicht statistisch erfasst. In den meisten Fällen der Abschiebungen (abgesehen von denen im Dublin-Verfahren) entsprechen sie allerdings den Ländern, in die sie abgeschoben werden (Zielländer). Bei Abgeschobenen in Dublin-Verfahren sind die Herkunftsländer nicht nachvollziehbar.
Wie viele Menschen sitzen in Sachsen in Abschiebehaft?
Laut Informationen des sächsischen Staatsministeriums des Innern saßen am 24. Juli 2019 insgesamt vier Menschen in Sachsen in Abschiebehaft. Zwischen dem 3. Dezember 2018 (Beginn des Vollzugs der Dresdner Abschiebehaft) und dem 31. März 2019 (letzter Stichtag der Kleinen Anfrage) saßen in Sachsen insgesamt 57 Menschen in Abschiebehaft.
Auf der Website des Sächsischen Flüchtlingsrats heißt es: „Abschiebungshaft ist das härteste Mittel zur ‚Sicherung der Abschiebung‘, wenn Menschen vollziehbar ausreisepflichtig sind und einer Person unterstellt wird, sie wolle sich der Abschiebung entziehen. […] Über Haftanordnungen entscheiden Amtsgerichte.“
Wie viele Asylanträge werden in Sachsen abgelehnt?
Am 31. März 2019 waren insgesamt rund 12.500 Menschen aus Sachsen vollziehbar ausreisepflichtig. Das bedeutet, dass die jeweils gestellten Asylanträge abgelehnt wurden. Bei etwa 3.000 von ihnen ist die Ausländerbehörde befugt eine Abschiebung durchzuführen. Die anderen 9.539 haben eine Duldung. Das heißt, es gibt keinen Aufenthaltstitel, aber eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ (Paragraf 60a AufenthG). Grund für eine Aussetzung kann zum Beispiel ein Ausbildungsplatz in Deutschland sein.
Gibt es ausreisepflichtige Menschen in Sachsen, die Deutschland selbstständig verlassen?
Ja. Zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. März 2019 haben insgesamt 187 nach Gesetz ausreisepflichtige Menschen Deutschland selbständig verlassen.
Welche Rechte haben Menschen, die abgeschoben werden? Kann eine Abschiebung aufgehalten werden?
Die einzige Möglichkeit, eine Abschiebung aufzuhalten, ist ein Eilantrag beim Verwaltungsgericht. Dieser muss schriftlich begründet sein. Hierfür müssen die entsprechenden Dokumente vorliegen und der Antrag muss von einer*einem Anwält*in eingereicht werden. Außerdem muss sich im Anschluss ein Gericht zeitig genug entscheiden. Ein kompliziertes Verfahren also, bei dem die Chancen oftmals schlecht stehen. Gärnter erklärt: „Für vollziehbar ausreisepflichtigen Menschen ist es immer besser, präventiv eine Beratungsstelle aufzusuchen, um gemeinsam verbleibende aufenthaltsrechtliche Optionen auszuloten.“
Welcher polizeiliche Aufwand geht mit Abschiebungen einher?
Während der Abschiebungen aus Sachsen im ersten Quartal wurden insgesamt etwa 3.100 Beamt*innen eingesetzt. Etwa 440 von ihnen sind der Polizeidirektion und 2.600 der Bereitschaftspolizei zuzuordnen.
Titelbild: René Loch
Grafiken: Leonie Asendorpf
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