Nicht alle Veränderungen sind gut
Manche Veränderungen sind sogar ziemlich schrecklich. Kolumnistin Pauline schreibt über wachsende Krebszellen und ihr gewandeltes Zuhause.
Als ich das erste Mal nach der Diagnose zu meinen Eltern fuhr, konnten sie mich nicht wie sonst am Bahnhof empfangen. Denn mein Vater holte stattdessen meine Mutter aus dem eine Stunde entfernten Krankenhaus ab. Aber der Weg vom Bahnhof nach Hause ist kurz. Und es ist eh albern, dass sie mich immer abholen ─ albern, aber auch ein Ritual.
Zuhause klebte auf dem Spiegel im Flur ein Zettel mit meinen Kontaktdaten, für den Notfall. Und mir fiel sofort ein neues Buch namens „Keimarm kochen“ auf: „Krebs? Transplantation? Geschwächtes Immunsystem? Rezepte und Empfehlungen für Einkauf, Hygiene, Zubereitung“. Auf dem Schreibtisch lagen Notizen über Diagnose, Behandlung, Chancen.
Wenn bei jemandem Krebszellen gefunden werden, spricht man zynischerweise von einem positiven Befund. Den Tumor nennt man bösartig oder „maligne“, wie meine Mutter sagt.
Als ich das zweite Mal nach der Diagnose zu meinen Eltern fuhr, holte mich mein Vater am Bahnhof ab. Meine Mutter hatte ihre erste Chemotherapiesitzung hinter sich und blieb Zuhause. Dort hingen immer noch meine Kontaktdaten am Flurspiegel. Aus meinem Zimmer war das Ruhezimmer geworden: Damit meine Mutter nicht immer gleich ins Bett gehen muss, wenn sie sich schwach fühlt, legt sie sich in meines.
Ich lief durch die Straßen der kleinen Stadt und stellte mir vor, wie es wäre, wieder hier leben zu müssen, sollen, wollen. Im Sommer kann man im Fluss baden und im Winter an ihm spazieren gehen. Ich könnte jeden Tag die Creme meiner Mutter benutzen, die zwar gegen Falten ankämpft, die ich gar nicht habe, aber dafür nach Keksteig riecht. Vielleicht würden sich meine Eltern endlich eine Katze anschaffen. Das wäre schön.
Krebszellen sind keine positive Veränderung. Man wächst nicht an ihnen, sondern sie in einem. Sie wuchern, wie es nur Hecken und Haare sollten. Von letzteren wird meine Mutter einige weniger haben, wenn ich zum dritten Mal nach der Diagnose zu meinen Eltern fahren werde. Den Gutschein für eine Perücke hat sie abgelehnt, aber bald wird sie ein Kosmetikseminar für Krebspatientinnen besuchen: „Dann lerne ich endlich mal, wie man Augenbrauen in Form bringt.“
Eine Freundin sagte zu mir: „Du bleibst du. Und deine Mutter bleibt deine Mutter.“ Meine Mutter tischt immer noch riesige Nachtischmengen auf, denn ihre Ärzte konnten „Zucker nährt den Krebs“ nicht bestätigen. Sie liest nach wie vor viel, nur jetzt eben häufiger im Bett. Und obwohl ich die Blumen im Garten gieße, muss ich mir von ihr zeigen lassen, wie man den Schlauch benutzt, kann keinen Flug ohne ihre Ratschläge buchen und brauche sie vermutlich viel mehr als sie mich ─ das wird sich auch bei meinem dritten, vierten und fünften Besuch nach der Diagnose nicht ändern.
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.