Demokratie ist mehr als Kreuze setzen
Wählen gehen ist aufregend, danach ist das Gewissen beruhigt, man fühlt sich irgendwie gut. Das ist klasse, aber es reicht nicht mehr, nur das Wahlrecht zu nutzen – findet Kolumnistin Hanna.
Meine Eltern trinken selten Alkohol und erst recht nicht mitten am Tag. Doch es gab schon immer eine Ausnahme dieser ungeschriebenen Regel: Wahlen. Ob auf kommunaler, Bundes-, Landes- oder EU-Ebene – wenn meine Eltern wählen gehen, trinken sie danach immer einen Schnaps. Und das „Wenn“ im vergangenen Satz ist nicht mit „falls“ zu ersetzen. Denn in meiner Familie war diese Sache ebenfalls immer unbestritten: Wenn Wahlen sind, dann geht man wählen. Punkt. Der Schnaps anschließend ist dann die logische Konsequenz.
Diese Tradition habe ich, nachdem ich von Zuhause ausgezogen bin, nicht fortgeführt. Weil ich am Wahltag irgendwo unterwegs war, habe ich meistens per Brief gewählt. So auch bei den sächsischen Landtagswahlen. Dabei ist Wählen eine so schöne Sache. Allein in die Wahlkabine gehen, zehn Mal kontrollieren, ob die Kreuze bei der richtigen Partei sind, dann noch das Zusammenfalten hinbekommen und beim In-die-Wahlurne-stecken bloß nichts falsch machen. Ich bin immer ein bisschen aufgeregt, wenn ich wählen gehe. Einfach nur im Vorbeigehen einen Umschlag in den Briefkasten stecken ist da schon weniger spektakulär. Aber dennoch: Nachdem ich gewählt habe, habe ich mich gut gefühlt. Im Geiste habe ich einen Haken an den Punkt „Wahlrecht wahrnehmen, an der Demokratie beteiligen“ gemacht.
Das ist auch gut so. Wählen gehen ist etwas, das man feiern sollte – mit einem guten Gefühl oder einem Schnaps. Man darf mal einen Sonntag lang stolz auf sich sein. Stolz darauf, dass man es hinbekommen hat, sich rechtzeitig in Leipzig anzumelden, dass man die Wahlunterlagen erhalten und sogar noch rechtzeitig Briefwahl beantragt und dann die eigene Stimme abgegeben hat. Das ist klasse, wirklich. Aber es ist das Mindeste.
Wie auch immer die Wahl in Sachsen heute ausgeht – es reicht nicht, nur zwei Kreuze zu setzen und sich dann fünf Jahre lang in einer Leipzig-Blase zu verkriechen, in der alle vegan, links und vermeintlich politisch sind. Nicht in Zeiten, in denen Nazis durch Connewitz ziehen, in denen People of Colour auf offener Straße rassistisch beleidigt werden, in denen der Wahlsieg einer Partei, die sich nicht schämt, sich antisemitisch und rechtsextrem zu äußern, nicht nur möglich, sondern laut Umfragen wahrscheinlich ist.
Politisch aktiv zu sein muss nicht heißen, in eine Partei einzutreten. Das ist ein Spektrum, ein Bereich, der tausend Möglichkeiten der Partizipation zulässt: Initiativen, Vereine, Projekte gegen Rassismus, jeden Freitag auf die Straße gehen und für das Klima demonstrieren, den Mund aufmachen, wenn rechte Äußerungen und Beschimpfungen fallen.
Ich will überhaupt keine Moralkeule schwingen, denn meine politische Teilhabe hat sich jahrelang auf das Zwei-Kreuze-Setzen mit anschließendem Schnaps beschränkt. Aber ich bin nun sächsische Bürgerin – da kann ich nicht so tun, als würde das reichen. Seitdem ich in Leipzig lebe, habe ich so viele tolle Menschen getroffen, die in ehrenamtlichen Initiativen ihre gesamte Freizeit verbringen, die erst 17 Jahre alt sind und schon Demos organisieren oder ihr ganzes Leben in Sachsen wohnen und sich mit ihrem Engagement jeden Tag Nazis in den Weg stellen.
Also setzt eure Kreuze und dann lasst euch inspirieren, schließt euch zusammen. Was immer es ist – als junge studierende Menschen ist es unsere Pflicht, das Privileg zu nutzen, den Mund aufzumachen und uns politisch zu engagieren.
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