Blut, Schweiß und Einsamkeit
Zutiefst menschliche Dinge sanktionieren wir ständig als irgendwie eklig und irgendwie peinlich. Wir sollten gütiger zu einander sein – und zu uns selbst auch, findet Kolumnistin Alicia Kleer.
Ich stehe am Spülbecken im Büro und merke, dass ich auslaufe. Ich spüle das Geschirr fertig, gehe dann auf’s Klo, um festzustellen, dass das Blut schon durch die Hose gesuppt ist und man zwischen meinen Beinen einen Blutfleck sehen kann. Genervt überlege ich, was ich machen soll und entschließe mich für gar nichts. Arbeite so weiter, fahre so U-Bahn, gehe so noch in die Bibliothek, abends essen und dann erst nach Hause.
Ich bin ein bisschen stolz auf mich. Früher wäre ich panisch nach Hause gefahren. Hätte mir irgendeine Ausrede ausgedacht, dann irgendwas umgebunden, oder versucht die Hose im Waschbecken zu waschen. Nicht, dass man das Blut gesehen hätte – es sei denn ich hätte mich breitbeinig irgendwo hingesetzt – aber allein die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass irgendjemand es dann doch sieht, hätte mich scham-technisch ausgeknockt.
Durchgehend sanktionieren wir Menschen für das allermenschlichste. Das Blut ist nur ein Beispiel. „Die Tage haben“ ist ein absoluter Euphemismus dafür, was Frauen jeden Monat durchmachen müssen und trotzdem ist es irgendwie eklig und peinlich. Wir entschuldigen uns, wenn wir niesen. Wir „dürfen“ – der Anstand verbietet es – in der Öffentlichkeit weder rülpsen noch – viel schlimmer – furzen. Wir verstecken, wenn wir schwitzen. Wir rasieren, epilieren, wachsen alle Haare an den „falschen Stellen“. Wir tun alles, um ja nicht zu „stinken“. Wir tun so, als würden wir nie kacken gehen, schon gar nicht als Frau. Seit Monaten habe ich immer wieder Herpes und wenn ich das dann sage, damit Menschen zum Beispiel nicht aus meiner Flasche trinken, kommt immer wieder die Reaktion: „Ihh!“. Krankheiten haben ist irgendwie auch nicht okay. Geht’s noch?
Mit emotionalen Sachen ist es ganz ähnlich. Wir weinen nur im Geheimen. Alle Bedürfnisse, die nicht Hunger, Durst oder Sex sind, müssen irgendwie kleingeredet, vertuscht oder anders verpackt werden. Wir geben nicht zu, wenn wir einsam sind. Weniges ist so negativ konnotiert, wie einsam sein. Einsam sein bedeutet, dass einen niemand mag und man keine Freund*innen hat und irgendwie ist nichts so peinlich wie das. Wir geben nicht zu, wenn alles, was wir brauchen, eigentlich wirklich nur ein bisschen positive Aufmerksamkeit, eine Umarmung oder ein platonischer Bei-Schlaf ist. Alles Dinge, die uns schwach wirken lassen. Alles Dinge, die zutiefst menschlich sind.
Auch Verhalten sanktionieren wir am laufenden Band. Vor allem solches, dass es moralisch zu verurteilen gilt. Bei „Fehlern“ bin ich nicht besonders gnädig. Eine ehemalige Freundin von mir hat ihren Freund mit seinem besten Freund betrogen. Wir sind nicht mehr befreundet. Ich wollte nicht mehr. Aber ist das richtig so? Ja, was sie gemacht hat war falsch und hat sehr viele Menschen sehr verletzt. Aber muss es nicht auch in Ordnung sein, ab und zu mal so richtig nicht in Ordnung zu sein? Mensch sein lassen ist anscheinend nicht einfach.
Mit mir selbst bin ich ähnlich ungnädig. Wie sehr pocht mein Herz, wenn ich vor einer größeren Gruppe Menschen etwas Kontroverses sagen möchte. Wie wenige Leute lasse ich meine Arbeiten lesen, weil ich Angst habe, sie könnten vielleicht denken, dass ich dumm bin. Nur solche, die mich dann immer noch – gewissermaßen – lieben müssen: Meine Mutter, meinen Vater und allerengste Freundinnen. Wie oft ich Dinge denke, sie erst anders verpacke und dann sage, oder erst gar nicht mehr sage. Irgendwie abgeschmirgelter, reflektierter. Was sollen die Leute denn sonst von mir denken? Ich arbeite dran. Ich arbeite daran, weniger zu filtern, ehrlicher zu sein, mehr genau das zu sagen, was ich tatsächlich empfunden oder gedacht habe. Aber es ist nicht einfach. Mensch sein ist nicht einfach.
Andauernd überlege ich, was „das Richtige“ ist und was man eigentlich machen müsste. Und wenn ich das nicht so mache und mir irgendeine „Ausrede“ ausdenke, obwohl ich es eigentlich besser weiß, bin ich dann nicht unfassbar selbstgerecht? Ich sollte kein Fleisch essen, nicht schlecht über andere Frauen reden (oder auch nur denken), ich sollte mehr lesen, mehr Sport machen, weniger fliegen, freundlicher sein, selbstbewusster sein, weniger verurteilend, mutiger. Die Liste ist lang.
Bei ihrem letzten Besuch hat mir meine Mama eine Karte dagelassen, auf der steht: „Gütig mit Dir sein.“ Die hängt jetzt an meiner Pinnwand, wo ich sie sehen kann, wenn ich am Laptop sitze. Manchmal, wenn ich merke, dass sich eine Krise anbahnt, gucke ich sie tatsächlich an und versuche, tief durchzuatmen und gütig mit mir zu sein. Und am besten mit anderen auch.
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