„Es war eine permanente Gänsehautzeit“
Als junge Frau war Kathrin Mahler Walther im Leipziger Widerstand gegen die DDR-Regierung. Ein Gespräch über Angst, den Alltag im Herbst ‘89 und die Suche nach dem „Wir“ in Protestbewegungen.
Die Soziologin Kathrin Mahler Walther war seit 1987 Mitglied im Leipziger Widerstand gegen die DDR-Regierung, gründete Frauengruppen und zählte heimlich Demonstrant*innen. Anfang Oktober verlieh ihr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz. luhze-Redakteur Jonas Waack sprach mit ihr über Opposition und Fridays For Future.
luhze: Warum sind Sie in den Widerstand gegangen?
Mahler Walther: Meine Eltern brachten mir bei, dass man sich in die Gesellschaft einbringen sollte. Mich hat umgetrieben, dass es eine enorme Diskrepanz zwischen den Parolen gab, die überall zu lesen waren und dem, was die Menschen empfunden haben. Mir war klar, dass das nicht funktionieren kann. Als ich das thematisieren wollte, wurde ich von der Klassenlehrerin, dem Direktor und der Pionierleiterin entsprechend gemaßregelt. Ich hatte das Glück, gleichzeitig in der reformierten Kirche Anschluss zu finden und bin dort in der Jungen Gemeinde auf Menschen getroffen, die die gleichen Fragen hatten. Dort konnte ich über das diskutieren, was mich beschäftigte.
War das Ziel 1987 schon die Wiedervereinigung?
Nein! Wiedervereinigung war ein Gedanke, mit dem kaum jemand etwas am Hut hatte. Wir hatten in Leipzig Demonstrationen am Nikolaikirchhof, wo die Ausreiser „Wir wollen raus“ und wir „Wir bleiben hier“ gerufen haben. Weil das die gefährlichere Drohung war, weil es hieß, dass wir hier was verändern wollten. Für uns war klar, dass wir nicht raus wollten, dass wir die DDR demokratisieren wollten. Heute weiß ich, dass das eine Illusion war, dass das nicht funktionieren konnte.
Waren Sie in den drei Jahren Widerstand immer optimistisch, das erreichen zu können?
Niemals hätte ich geglaubt, dass es diesen Herbst ‘89 geben würde. Wir fühlten uns bis zum Sommer von einem revolutionären Umbruch weit entfernt. Dass es überhaupt öffentliche Demonstrationen geben würde, dass sich die Menschen so politisieren würden, hätten wir nicht geglaubt. Ich stand in der Straßenbahn und um mich herum haben sich alle über die Montagsdemonstrationen unterhalten. Das hat mich sehr bewegt. Es war eine permanente Gänsehautzeit.
Ab wann waren Sie sich sicher, dass Sie die DDR verändern können?
Ab dem 9. Oktober waren wir uns sicher, dass die DDR-Führung nicht schießen wird. Es gab keinen anderen Weg mehr: entweder den Protest niederschießen oder mit uns in den Dialog gehen. Als wir es geschafft haben, die Kunde von diesem Tag in die Westpresse zu bringen, gab es kein Zurück mehr – ich saß versteckt in der verdunkelten Kanzlei der Reformierten Kirche und habe von dort aus die Demo beobachtet und geschätzt, wie viele Menschen da sind, um das an die Westpresse weiterzugeben.
Wie haben Sie es geschafft, dass am 9. Oktober so viele Menschen auf die Straße gingen?
Im Herbst entstand eine revolutionäre Situation, es brauchte einen Ort, wo man diesen Handlungswillen einbringen konnte. Den hatten wir mit den Friedensgebeten zu bieten, weil wir die seit Jahren immer montags 17 Uhr durchgeführt haben. Es sprach sich herum, dass diese Proteste stattfinden. Am 9. Oktober war die Stadt voll mit Bereitschaftspolizisten. Meine Mutter wurde von ihrem Chef gewarnt, dass sie nicht in die Innenstadt gehen solle, es gebe einen Schießbefehl. Die Krankenhäuser haben Blutkonserven aufgerüstet. Die Luft war zum Schneiden. Das war wirklich der Tag der Entscheidung.
Woher kam dieser Erfolg?
Wir haben lange strategisch darauf hingearbeitet. Und dann waren wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es gab eine generelle Liberalisierung in der DDR, auch Kritik aus der SED. Der Unmut der Bevölkerung wuchs, an vielen Stellen merkte man, dass die Wirtschaft marode ist. Viele kannten Menschen, die ausgereist waren. Bei denen, die blieben, wuchs das Gefühl, dass sie bald die Letzten im Land sind. Als Bürgerbewegung hatten wir jahrelang diesen Montag als festen Termin etabliert, sodass die Leipziger Friedensgebete zum Anlaufpunkt werden konnten. Außerdem hatten wir wichtige Netzwerke aufgebaut, sowohl in den Gruppen in der DDR untereinander als auch zu Westjournalisten, was natürlich sehr umstritten war. Denn für diese Menschen, die eigentlich in ihrem Land etwas verändern wollten, war es sehr schwierig, Informationen an Journalisten weiterzugeben, die für ein anderes System standen.
Welche Fehler hat die Opposition in der DDR gemacht?
Wir sind als Menschen sehr auf der Strecke geblieben. Ich habe Tagebuch geführt, alle drei bis vier Tage die Seiten rausgerissen und verbrannt, damit sie niemand findet. Die Angst begleitete uns ständig. Ich war 17, im Dezember ’89 wurde ich 19! Mit niemandem darüber reden zu können, was ich mache, ist mir sehr schwergefallen. Ich habe wenig geschlafen und am Ende meiner Berufsausbildung dauernd Koffeintabletten genommen, um tagsüber im Unterricht wach zu bleiben. Im Herbst überschlugen sich dann die Ereignisse, man kam nie zum Durchatmen.
Wurde Ihre eigene Rolle dadurch beeinflusst, dass Sie eine Frau sind?
Das ist schwer zu sagen. Wir hatten, obwohl es viele Frauen gab, mit Sicherheit patriarchale Strukturen. Schließlich lebten wir nicht jenseits der Gesellschaft, die uns geprägt hat. Die Auseinandersetzung mit dem Patriarchat erfolgte nicht mit den Männern, sondern unter den Frauen. Wir hatten ja „Wichtigeres“ zu tun, nämlich für die Demokratie zu streiten. Insofern habe ich mich durchaus manchmal in Situationen gefunden, in denen ich in dieser Rolle als jung und weiblich wahrgenommen wurde, also eher unterstützt habe, als vorneweg marschiert bin. Trotzdem haben Frauen in der Widerstandsbewegung eine wichtige und führende Rolle eingenommen.
Warum haben Sie Frauengruppen gegründet?
Das Geschlechterthema hat mich schon als Kind beschäftigt. Einerseits gab es in der DDR wegen des Arbeitskräftemangels viel Gleichstellung, andererseits wenige Frauen in Führungspositionen, wir hatten moderne und traditionelle Geschlechterbilder. Mit den Frauengruppen haben wir einen Raum geschaffen, um diese Rollen zu hinterfragen und zu verorten.
Warum sind so viele Gesichter der heutigen Klimabewegung weiblich?
Dass jemand wie Greta Thunberg als Mädchen vorneweg geht, stärkt andere Mädchen, sich politisch zu engagieren. Es gibt viele motivierte Mädchen, doch die Pubertät ist für beide Geschlechter eine verunsichernde Zeit, in der einem viel Stärke abhandenkommt, die man mit einer neuen Identität wiederaufbauen muss. Es gibt aber mehr starke männliche als starke weibliche Vorbilder. Deswegen gibt Greta Thunberg anderen Mädchen die Kraft, sich der Bewegung anzuschließen.
Was können Protestbewegungen von der Friedlichen Revolution lernen?
Viel! Dass es ganz unterschiedliche Aufgaben gibt und nicht nur um diejenigen geht, die mit der lautesten Stimme vorneweg marschieren. Es muss Menschen geben, die die Bewegung punktuell unterstützen, solche, die Strategien entwickeln oder aktionistisch unterwegs sind. Es gab bei uns oft Streit zwischen diesen Gruppen, trotzdem haben wir immer nach dem verbindenden „Wir“ gesucht. Emanzipationsbewegungen sind wichtig, um sich in der eigenen Identität zu verorten und darin Kraft zu finden. Das birgt jedoch die Gefahr, sich in dieser Identität abzukapseln und sich gegeneinander zu stellen. So lähmt man sich und beraubt sich der gemeinsamen Schlagkraft. Wenn wir nach dem verbindenden „Wir“ suchen, können wir etwas bewegen.
Wie findet man dieses „Wir“?
Durch möglichst simple Forderungen. So wie wir damals, als es um „Demokratie“ ging. Es war sehr klug von Fridays For Future, den 20. September (Tag des Globalen Klimastreiks, Anm. d. Red.) in die Bevölkerung hinein zu öffnen, dadurch wird die Bewegung groß. Medial gesehen halte ich es für wichtig, positive Geschichten zu erzählen, weil das das Schüren der Angst und Spaltung bekämpft. Ich finde es sehr gut, dass mehr ostdeutsche Geschichten erzählt werden. Meine große Hoffnung ist, dass wir es schaffen, diesen 9. Oktober im kollektiven historischen Bewusstsein zu verorten. Dieser Tag steht für den Mut der Ostdeutschen. Das war der Tag, an dem zehntausende Menschen ihre Angst überwunden und alles riskiert haben. Dafür gibt es immer noch viel zu wenig Wertschätzung.
Titelfoto: Christoph Motzer
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