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  • Kein Muttersöhnchen

    Der Soziologe Alexander Yendell fordert, mehr über die verkorkste Kindheit des Attentäters von Halle zu berichten. Damit redet er dessen rechtsextreme Motive klein, findet Redakteur David.

    Wenn es um extremistische Gewalt geht, dann lieben wir Deutschen den doppelten Standard. Zweieinhalb Stunden brauchte der sogenannte „Amokläufer von München“ im Jahr 2016, um neun Menschen und anschließend sich selbst zu erschießen. Erst drei Jahre und etliche Gutachten später entschloss sich das bayerische Landeskriminalamt, den „Amoklauf“ als Anschlag zu werten und seine Morde da einzuordnen, wo sie hingehörten: In die Statistik für „Politisch motivierte Gewaltkriminalität – rechts“.

    Der Vorgang ist symptomatisch für unsere politische Kultur: Selbst nachdem der NSU-Ausschuss im Jahr 2013 deutschen Ermittlungsbehörden vorgeworfen hatte, „auf dem rechten Auge betriebsblind“ gewesen zu sein, zierten sich diese in München, das Kind beim Namen zu nennen. Es wurde debattiert und abgewogen, man redete von „Einzeltätern“, interessierte sich für das familiäre Umfeld des Attentäters und fragte sich, ob da nicht einfach jemand psychische Probleme hatte.

    Nur allmählich zeichnet sich in der deutschen Öffentlichkeit die Bereitschaft ab, offen über rechtsextreme Gewalt zu reden. Der jüngste Vorschlag des Leipziger Soziologen Alexander Yendell ist darum besonders bitter. Knapp einen Monat nach dem Anschlag von Halle fordert Yendell im luhze-Interview, weniger über die rechtsextremen Motive des Attentäters zu berichten: „Sinnvoller wäre es aus meiner Sicht, solche Taten als schwerwiegende Hasskriminalität zu bezeichnen, um den Tätern Verantwortung für das Kernmotiv zurück zu geben. Rechtsextremismus und Rassismus sind in erster Linie kriminell und dürfen nicht als eine politische Meinung verharmlost werden, denn das macht sie für Rechtsextreme legitim.“ Man solle sich stärker die „dysfunktionalen Familien“ der Attentäter ansehen, die oft kein „männliches Vorbild“ in ihrem Vater finden könnten und die „oft Mütter haben, die die Männer in ihrem Autonomiebestreben nicht fördern“. So ist das also: Der Attentäter ist ein Muttersöhnchen, darum wollte er Juden töten.

    Man muss dazu sagen, dass natürlich auch Yendell politische Motive am Werk sieht und dem Attentäter die rechtsextreme Gesinnung nicht abspricht. Er sieht auch die Gefahr rechtsextremer Netzwerke und lässt es sich nicht nehmen, Björn Höcke einen Faschisten zu nennen. Seine Äußerungen sind allerdings in vielfacher Hinsicht problematisch. Das fängt bei der Forderung an, den Morden ein neues Etikett zu verpassen: Wo genau soll die „schwerwiegende Hasskriminalität“ anfangen, wo soll sie aufhören? Dürften wir noch von einem politischen Hintergrund sprechen, wenn jemand Hakenkreuze malt und Naziparolen grölt – sobald er aber in Kampfmontur vor einer Synagoge aufmarschiert, sollte man das dann nicht mehr als rechtsextrem bezeichnen? Es sind zwei Dinge, die sich in der Bezeichnung als „schwerwiegende Hasskriminalität“ nicht wiederfinden: Erstens lässt sie keine Rückschlüsse auf die politischen Motive mehr zu, die diese Taten antreibt. Zweitens trägt sie den Terror nicht mehr im Namen, dem sich die Täter verschrieben haben. Kriminell ist schließlich auch ein Hühnerdieb, aber er säht keinen Schrecken, um die gesellschaftliche Ordnung in seinem Sinn zu verändern.

    Problematisch ist auch die Diskursverschiebung, die Yendell einfordert. Individuelle Vernachlässigung in der Jugend, mangelnde Unterstützung durch die Eltern oder – wie Yendell in einer Pressemitteilung der Universität Leipzig vom 11. Oktober – psychische Störungen mögen wichtige Ursachen dafür sein, dass jemand Hassfantasien entwickelt. Gegen wen sich dieser Hass aber richtet, darüber entscheidet nicht zuletzt das politische und gesellschaftliche Umfeld, in dem sich die Täter bewegen. Dass seit Jahren Asylbewerberheime brennen, liegt wohl kaum daran, dass in den letzten Jahrzehnten besonders viele vernachlässigte Faschistenkinder herangezogen wurden, hat aber wahrscheinlich viel mit dem Aufstieg von Pegida und AfD und deren Inszenierung einer „Flüchtlingswelle“ zu tun. Wer nach einem politisch motivierten Anschlag vor allem über die verkorkste Kindheit des Attentäters berichtet, redet die Ideologie klein, die hinter der Tat steckt. Ein gesellschaftliches Problem würde so auf die Tat eines Einzelnen reduziert, der Systemfehler würde dann höchstens bei den Sozialbehörden liegen.

    Yendells Vorstoß mag von dem Bemühen getragen sein, Rechtsextremismus nicht als legitime Position in der politischen Auseinandersetzung zu verharmlosen. Auch hat er vollkommen Recht, wenn er nach den persönlichen Umständen fragt, die einen Menschen zu Hass und Gewalt treiben, und danach, wie eine solche Radikalisierung von vornherein verhindert werden könnte. Momentan müssen Aussteigerprogramme um ihre Finanzierung bangen, wo unsere Gesellschaft doch dringend Möglichkeiten braucht, Menschen Wege aus der rechtsextremen Szene zu weisen. Um den Hass aber wirkungsvoll bekämpfen zu können, muss man auch ganz klar benennen, wo er herkommt. „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“, sangen die Ärzte 1993 in Richtung der Rechtsextremen und Yendel meint, sie hätten es damit auf den Punkt getroffen – dabei war das schon damals nur die eine Seite der Medaille. Als der Attentäter in Halle gegen die Tür der Synagoge trat, da schrien aus ihm vor allem Antisemitismus und Faschismus. Wahre Verantwortung, die auch Yendell einfordert, muss dabei anfangen, das auch auszusprechen.

     

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