Schwestermonde
Kolumnistin Lisa ist mit einer eineiigen Zwillingsschwester aufgewachsen. Wie schwer es ist, sich so nah zu sein und verschiedene Wege gehen zu müssen, erzählt sie hier.
Ich bin vier Jahre alt und ich erzähle gerne Geschichten. Am liebsten im Geheimen, im Spielzimmer meines Kindergartens. Vor dem Einschlafen habe ich Angst, dass ich, wenn ich träume, in Wahrheit aufwache, dass ich in Wirklichkeit bei einer alten Dame wohne und ein Waisenkind bin. Irgendwo muss es ein Geheimnis geben. Früher oder später wird es mich einholen und die Kinderwelt, in der ich lebe, wird zerfallen wie andere Träume nach dem Aufwachen. Jeden Tag probiere ich neue Geschichten aus, probiere sie an, wie Kinder Schuhe anprobieren: falsch herum.
Folgende Geschichte erzähle ich einem Mädchen aus meiner Gruppe. Andächtig führe sich sie in meine persönliche Beichtkammer. Sie schaut mich mit großen Augen an. Der Teppich im Zimmer dämpft mein piepsiges Flüstern. Ich erzähle ihr von den Erinnerungen vor meiner Geburt. Wie ich im Bauch meiner Mutter war. Wie ich im roten Licht neben meiner Schwester lag. Warm, weich, absolut, Monde im Universum, die in den Schein einer fernen Sonne getaucht sind. Zum Beweis zeige ich ihr den Knick in meinem linken Ohr. Sie glaubt mir jedes Wort.
Von Anfang an verbinde ich mit Allen in meiner Familie ein bestimmtes Gefühl: Meine Mutter ist mein Wetter. Wenn sie hell und offen ist, ist es auch meine Welt. Mein Papa ist fern und manchmal ganz nah, ein Meteorit. Mein kleiner Bruder, der an diesem Tag im Jahr 2002 gerade erst geboren war, war schon immer er. Auch als er noch ein schrumpeliges Alien in den Armen meiner Mama war. Er ist ruhig und verborgen, ein stilles Meer voll tausender Wunder in meinem Kinderuniversum. Du, meine Schwester, warst schon immer mein Anderes, der andere Mond, der um den gleichen Planeten kreist.
Auch du erzählst gerne Geschichten. Vor allem erzählen wir uns gegenseitig gerne Geschichten. Bis heute weiß ich nicht, ob du unserer Kindergartenfreundin von der Zeit vor unserer Geburt erzählt hast oder ich. So geht es mir mit vielen Dingen. Oft weiß ich nicht, ob ich sie erlebt habe oder du. Unsere erste Erinnerung geht auf den selben Tag zurück. Mit der gleichen Härte sind wir in die Welt der Menschen gekommen, die sich erinnern, sich erinnern müssen. Seitdem kreisen wir um die gleiche Vergangenheit.
Mit der Zeit bin ich mir der Entfernung auf unserer Umlaufbahn bewusster geworden. Mal verschwindest du ganz auf der anderen Seite des Planeten. Ich denke dann, dass du verloren gegangen bist, dass ich dich verloren habe. Ewig müssen wir auf das Gleiche blicken. Die gleichen Dinge, die noch schwerer wiegen, wenn sie aus zwei Perspektiven betrachtet werden müssen. Wenn sie in die Schwerelosigkeit hineinhallen, die wir beide zu gut kennen.
Manchmal liege ich nachts im Bett und kann nicht schlafen. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich Angst habe, es bleibt stehen. Dann schlägt es noch schneller, weil ich Angst habe, dass das jetzt doch die Telepathie ist, nach der alle immer fragen und du irgendwo bist und es dir schlecht geht und ich dich nicht sehen, nicht bei dir sein kann, nicht bei dir sein will. Denn längst habe ich mich hier eingenistet. Auf meiner Seite, mit meinem ordentlichen Abstand auf meiner ordentlichen Bahn.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich dich auf die andere Seite verbannt habe, dass man sich weiter entfernen muss, je näher man ist, um nicht zusammenzuprallen, dass ich dir am Ende nur den Schatten gelassen habe, damit für mich das Licht bleibt. Auch heute suche ich manchmal noch nach dem Geheimnis von kosmischem Ausmaß. Aber ich habe Formen des Erzählens gefunden, die die meisten Leute als wahr akzeptieren. Man nennt es dann einfach Trauma. In Gedanken kreise ich trotzdem noch um den Planeten und erkenne dein Gesicht, das meines ist, auf der anderen Seite. Ich erzähle gerne Geschichten, aber ich will dir auch deine eigene lassen.
Titelbild: Pixabay
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