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    Im Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen werden nicht nur Bücher verliehen, sondern auch hergestellt. Wir waren für unsere November-Reportage zu Besuch.

    Anja Lehmann steht vor ihrem Schreibtisch und fährt mit den Händen über weißes Papier. Sie richtet ihren Blick aus dem Fenster und liest laut vor. Linke und rechte Hand wechseln sich ab, tanzen über die Punkte auf dem Papier. Kurz stockt sie, fährt mit der linken Hand zurück und berichtigt sich: „Quatsch, das heißt ‚Schutz‘, nicht ‚Bericht‘.“ Lehmann ist Korrekturleserin am Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen (DZB Lesen). Sie und ihre Kollegin Caroline Waldenburger übertragen Bücher aus dem sogenannten Schwarzdruck, also herkömmlichem Druck für Sehende, in Brailleschrift.

    Das DZB Lesen lagert ungefähr 47.400 Hörbücher, 19.500 Brailletexte und 6.700 Noten. Nichts davon ist jedoch zu sehen, wenn man das Gebäude betritt. Auf den ersten Blick unterscheidet sie wenig von einem normalen Bürogebäude: Unscheinbare Gänge führen in unscheinbare Räume, die wenig Ungewöhnliches enthalten. Der zweite Blick offenbart dann doch Unterschiede: An einige Computer sind Brailletastaturen angeschlossen, die Knöpfe des Fahrstuhls hupen bei Betätigung und im Foyer steht ein lebensgroßer Plüschblindenhund mit der Bitte um Spenden. Noch vor kurzer Zeit stand auf dem großen Schild vor dem Zentrum „Deutsche Zentralbücherei für Blinde“, erst mit dem 125-jährigen Jahrestag der Gründung am 12. November änderte sich der Name.

    Nutzbar

    Die Nutzung des DZB Lesen ist für blinde und sehbehinderte Menschen kostenlos. Nutzer*innen können per Mail oder Telefon Bücher bestellen, die ihnen dann per Post zugeschickt werden. Sowohl Hin- als auch Rücksendung bezahlt die DZB. Jedes Hör- und Braillebuch ist zweimal in der Bibliothek vorhanden, es werden auch Bücher für den Verkauf hergestellt. „Der Geschmack von sehenden und sehbehinderten Lesern unterscheidet sich nicht wirklich“, stellt Gabi Schulze, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit des Zentrums, fest. Das beweist auch die Liste der meistverliehenen Bücher: Zu den aktuellen Top Fünf gehören Michelle Obamas Autobiografie und „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ von John Green. Die Nutzer*innenzahlen des DZB Lesen haben sich in den letzten Jahren nicht stark verändert.

    Nur selten verirren sich Nutzer*innen in das Zentrum, denn Sehbehinderte können online oder per Telefon viel besser herausfinden, welches Buch sie ausleihen möchten als an langen Regalreihen. „Der Name ist irreführend“, gibt Schulze zu und erklärt, dass der Großteil der hier stattfindenden Arbeit sich nicht mit dem Verleih, sondern der Herstellung von Produkten für blinde und sehbehinderte Menschen befasst.

    Tastbar

    Eine Kommission aus Lektor*innen und Bibliothekar*innen wählt die Bücher aus, die übertragen werden sollen und fordert dann von den Verlagen die Bücher an. Auch das Layout der Bücher gestalten sie komplett neu. „Typografische Mittel wie kursive oder fett gedruckte Schrift können wir nicht nutzen“, erklärt Waldenburger. „Stattdessen unterstreichen wir Textpassagen oder rücken sie ein.“

    Die vom DZB Lesen hergestellten Kinderbücher sind besonders beeindruckend: Damit sehende Eltern und blinde Kinder gemeinsam lesen können, sind hier Braille- und Schwarzschrift übereinander gedruckt. Einige Bücher sind sogar mit verschiedenen Stoffen versehen. Es ist offensichtlich, dass Schulze sich über die besonderen Bemühungen freut: „Die Kinder können lernen, was Schafe, Frösche und Elefanten sind, indem sie Wolle, Laminat und Leder anfassen und die dazugehörigen Worte in Braille lesen.“ Auch die Zeitschrift Geolino wird im DZB Lesen in Braille gedruckt.

    Eine Zinkplatte zum Übertragen von Brailleschrift und Hände von zwei Personen, die sie halten.

    Schrift, Fotos und Grafiken werden übertragen.

    Nach der Übertragung und Korrektur stanzen sogenannte Punzierer*innen das Negativ des Brailletextes in eine Zinkblechplatte. Diese Platte speisen sie dann in eine der hauseigenen Druckmaschinen ein, die den Text auf ungewöhnlich dickes Papier presst. Der Raum, in dem die Druckmaschinen stehen, unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sonderlich von einer normalen Druckerei, klingt aber ganz anders. Wo man das Rattern von Druckerpressen erwartet, erklingt hier eher eine Art beständiges Klackern, als würde man einen Holzstab über eine geriffelte Oberfläche ziehen. Die Maschinen sind vielfältig: Rechts steht eine klassische Presse, in die eine punzierte Zinkblechplatte eingeführt wird, umringt von dutzenden Stapeln von Kalenderblättern eines Wandkalenders für Blinde. Links drucken zwei neuere Maschinen ohne punzierte Platte – Computertechnologie sei Dank.

    200 Bücher produzieren die Übertrager*innen, Drucker*innen und Buchbinder*innen pro Jahr im Zentrum, alles unter einem Dach. Die Buchauswahl ist groß, von Sachbüchern über Kriminalromane bis hin zu Noten für Musiker*innen. Denn auch für Noten gibt es eine spezielle Brailleschrift, die der normalen Schrift sehr ähnelt – das Braille-A steht auch für den Ton A –, nur dass für Notenschlüssel und die anderen zusätzlichen Zeichen andere Kombinationen entwickelt wurden. „Blinde Sänger können ihre Noten natürlich lesen während sie singen. Pianisten dagegen müssen sie sich einprägen“, erklärt Schulze.

    Hörbar

    Beliebter als Braillebücher sind jedoch die vom DZB Lesen produzierten Hörbücher. Dafür gibt es im Gebäude drei Tonstudios, die pro Jahr ebenfalls ungefähr 200 Werke hervorbringen. Schauspieler*innen und Rundfunksprecher*innen sprechen auf Honorarbasis Bücher, aber auch offizielle Dokumente ein. Gerade liest der Schauspieler Roland Friedel ein Buch über Johann Sebastian Bach. Auf der anderen Seite der Scheibe im Tonstudio sitzt Tontechniker Krystian Furmanek und hört zu, den Ausspracheduden griffbereit neben dem Mischpult. Wenn Friedel sich verspricht, spult Furmanek zurück. Daraufhin fängt der Sprecher ein paar Wörter vorher wieder an und liest weiter. Das passiert alle paar Minuten. Furmanek, ganz der Profi, dreht sich dann kurz um, verschiebt einen Zeiger und spricht ins Mikro zu Friedel, um ihm zu sagen, wann er weiterlesen soll. Seit sechs Jahren produziert er nun Hörbücher für die DZB. „Vor allem muss ich kontrollieren, ob die Atmosphäre stimmt“, sagt er. „Die Sprecher sollen die Bücher nicht vorlesen, sondern erzählen.“ Auf Friedel, der seit 1977 in der DZB Hörbücher einliest, kann er sich verlassen. Seit zwei Jahren arbeiten sie bereits am Hörbuch, denn Friedel kommt nur für etwa sechs Stunden pro Monat ins Studio.

    In dem Gebäude, in dem heute das DZB Lesen residiert, gründete 1912 der Rabbiner Ephraim Carlebach die Höhere Israelitische Schule. Bis zur Reichspogromnacht 1938 lernten hier jüdische Schüler*innen, danach wurde das Haus zur Notunterkunft geflüchteter und Leipziger Juden*, bis es 1943 beschlagnahmt und von Bombenangriffen stark beschädigt wurde. Auch das alte Gebäude des damals noch „Deutsche Zentralbücherei für Blinde“ genannten DZB Lesen wurde bei diesen Angriffen zerstört, weswegen sie 1954 in das zu Ehren des Rabbiners umbenannte Ephraim-Carlebach-Haus einzog. Zu diesem Zeitpunkt produzierte die Bücherei bereits 60 Jahre lang Bücher für Menschen mit Sehbehinderung, sie war die erste ihrer Art. Schon 1926 hatte sie etwa 3.500 ständige Leser*innen – heute sind es ungefähr 5.600.

     

    Fotos: Theresa Moosmann

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