Gegen Dunkelheit keinen Glühwein, sondern Bühnenlichter
Vom 5. bis zum 10. November fand wieder die Euro-Scene Leipzig statt, ein Festival zeitgenössischen europäischen Theaters und Tanzes. Ein Rückblick auf Programm und Publikum
Nicht nur wegen der mangelnden mitteleuropäischen Sonne besuchte ich in der kalten Woche vom 5. bis zum 10. November im Rahmen der Leipziger Euro-Scene drei Inszenierungen. Die Euro-Scene ist ein nicht mehr wegzudenkendes zeitgenössisches Theater- und Tanzfestival, das schon seit 29 Jahren während des sterbenden Herbstes Treffpunkt für Kulturinteressierte ist. Das Festival gehört zu den wichtigsten seiner Art in Europa. Die Programmgestaltung führt seit Anfang an die Direktorin Ann-Elisabeth Wolff sowie ein künstlerischer Beirat. Sie setzen darauf, getrieben von Neugier und ästhetischer Kompetenz, neue Tendenzen des Szenischen zu fassen.
Ja, die Vorstellungen sind nicht für einen Fünfer zu besuchen – sie kosten für Studierende im Durchschnitt etwa 13 Euro –, dafür bleiben sie länger im Geiste als ein mittelmäßiger Glühwein vom Weihnachtsmarkt: Aus ganz Europa kommen Produktionen sowohl aus der freien Szene als auch aus institutionellen Häusern, um unter dem Vorwand eines Themas – dieses Jahr „Parallelwelten“ – einige Bühnen der Stadt kurzweilig zu erobern. Tanz und Theater fliegen hierher, schütteln ihren bunten Zauber auf die Sinne und verschwinden dann wieder, allerdings hinterlassen sie eine Spur: Unser Verständnis davon, wie szenische Künste sich definieren können, wird erweitert. Wenn man von Theater spricht, denkt man weder an ein großformatiges Puppentheaterstück noch an eine Mono-Oper; beides szenische Formen, die bei der diesjährigen Euro-Scene präsentiert wurden. Dazu gleich mehr. Wenn man über Tanz spricht, hat man auch nicht gleich im Sinn, dass dieser sich auf eine virtuelle Realität ausstrecken könnte oder dass Ballett mit geometrischen Lackfiguren funktioniert. All das war Teil des diesjährigen Festivals; eine breite Palette an Bühnenphänomenen, die von experimentell bis als ordentlich anerkannt reicht.
Zum Beispiel im Schauspiel Leipzig mit der Aufführung von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“. Die Nobelpreisträgerin wünschte sich, dass Nikolaus Habjan – mittlerweile der Glanzjunge der österreichischen Puppentheaterkunst – die Erstaufführung übernimmt. Das verwundert nicht, speziell bei diesem Theatertext, bei dem eine radikale Auseinandersetzung stattfindet. Nüchtern zusammenzufassen, was bei diesem Stück passiert, geht nicht. Beschreiben lässt sich, wie sechs Schauspieler und viele Puppen ein zwiegespaltenes Weltbild mit vielen Stimmen aufzeichnen. Auf der einen Seite die abstruse politische Realität, zugespitzt in Klappmaul-Gestalt des Königs, die – obwohl unausgesprochen – nicht von Donald Trump zu unterscheiden ist, und auf der anderen Seite die intellektuelle Machtlosigkeit in der persönlichen Ich-Puppe der engagierten Schriftstellerin. Sie treffen sich im Ovalen Zimmer des Imperiums und lassen sowas von die Sau raus. Nicht-menschliche Figuren sind hier absolut wirksam: Sie geben surreal und entfremdet die Krise der Moderne mit einer düsteren Komik wieder. „Am Königsweg“ sind zwei Stunden Weltschmerz in einen Witz gepackt, in dem sich Jelinek ihre eigenen Augen ausstechen lässt, denn: „Blinde können nicht lügen.“
Im Jahr des 100. Bauhaus-Jubiläums bekam das 1941 uraufgeführte „Lackballett“ von Oskar Schlemmer erstmals wieder eine Bühne: Das Theater der Klänge aus Düsseldorf interpretierte sein letztes Werk bei der diesjährigen Euro-Scene neu. Die Darsteller nahmen Schlemmers Lackkostüme als kreative Quelle in Beschlag und ließen sie multimedial in neuem Glanz erstrahlen. Oskar Schlemmer, von den Nationalsozialisten als „entarteter Künstler“ betitelt, hatte sie 1941 in prekären Zuständen entworfen. Alles andere (Musik und Choreografie) wurde mit der Fabrik, in der sich sein Atelier verbarg, zerbombt. Trotz des erdrückenden Sound-Designs hoben sich die sechs Tänzer in einer Choreografie ab, die wie ein Nachtmeer wirkte, auf dem Farben wie Kinder auf einem Spielplatz leicht und fröhlich herumtollten. Bauhaus plus Modern Dance plus Modelling im Dunkeln, so ungefähr.
Noch mal interessant wurde es bei der Inszenierung von „Diary of a Madman“ aus Nordmazedonien. Eine Mono-Oper: mit nur einem Darsteller. Anhand des Buches des russischen Klassikers Nikolai Gogol entstand eine musikalisch-dramatische Komposition, die mit erstklassigem Schauspielertheater gestimmt wurde. Das Schauspielertheater ist ein Theaterstil, bei dem die Kunst und das Handwerk des Schauspielers im Mittelpunkt stehen. Das auf Englisch aufgeführte Frontalspiel porträtierte mit gewaltigem Humor und Gräuel die Geschichte eines sozial minderen Bürgers im russischen Kaiserreich, der mit der zunehmenden Anzahl seiner Tagebucheinträge nach und nach den Verstand verliert. Zugleich ist es ein emotionaler Aufschrei dieses nach Leben durstigen Mensches, der Opfer seiner eigenen Unzufriedenheit ist, als der Aufstand gegen die Ordnung der Gesellschaft innerhalb seines Kopfes außer Kontrolle gerät. Plötzlich spricht er mit Hunden, lebt an einem Tag ohne Datum, und wird zum König von Spanien gekrönt. Die meisterhaft gestisch-musikalische Arbeit des Schauspielers führt uns dazu, „to see and hear things, that no other man have had“. Diese Inszenierung war ein absolut konfuser Lacher. Aber ein Lacher immerhin.
Nur warum sind junge Leute in den Publikumsreihen so rar? Sie verpassen hier etwas, das einen über den Winter bringt. Besonders aufs nächste Jahr gilt es gespannt zu sein: Das Festival feiert seinen 30. Geburtstag. Es wäre nicht verkehrt, wenn das Durchschnittsalter der Zuschauer ein wenig sinken würde!
Titelfoto: Alexi Pelekanos, Wien
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