Geschichte reimt sich
Die Ausstellung „Aufbrüche. Umbrüche. Abbrüche.“ im Pöge-Haus fängt die Veränderungen ein, die nach 1989 den Leipziger Osten erfassten, und schlägt den Bogen zum Heute.
Das Pöge-Haus ist verwandelt. Stühle, Tische und Bühne sind verschwunden. Übrig geblieben ist ein weißer Raum, der Platz für Geschichten lässt.
Die Ausstellung „Aufbrüche. Umbrüche. Abbrüche“ besteht aus drei Teilen: An zwei Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotografien, die der Fotograf Martin Jehnichen zwischen November 1988 und Januar 1991 geschossen hat. An der anderen Wand sind kleine Bildschirme mit angeschlossenen Kopfhörern angebracht, mit denen man den Erinnerungen von sechs Zeitzeug*innen lauschen kann. An jeder der Stationen gibt es kurze Interviews zu bestimmten Themen zu hören, wie zum Beispiel „Wende“, „Anekdoten“ oder auch „Ab in den Westen?“. Mitten im Raum – scheinbar in der Luft schwebend – hängen Porträts von den Zeitzeug*innen heute, mit einer kurzen Biografie auf der Rückseite.
Alle Bilder sind im Leipziger Osten entstanden, viele in Nachbarschaft zur Eisenbahnstraße und zum nahegelegenen Pöge-Haus, in dem damals eine Druckerei ansässig war. Der genaue Ort, den die Bilder zeigen, steht jedoch mit Absicht nicht darauf, wie Jehnichen zu Beginn der Ausstellungseröffnung erklärt. Die Bilder seien Symbolbilder. Sie sollen mehr zeigen als nur den konkreten Ort, sondern die unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungen der Wende repräsentieren.
Jehnichen, 1962 in Karlsruhe geboren, kam 1988 für ein Auslandssemester an der Hochschule für Grafik und Buchkunst nach Leipzig. „Das war fremder als Ausland“, sagt er, „alles war grau und seltsam.“ Er ist trotzdem geblieben, auch nachdem das Semester längst vorbei war. Anfangs sei diese Fremdheit der Auslöser für seine Fotos gewesen: Er habe einfach fotografiert, was ihm merkwürdig vorkam. Später, als die Friedliche Revolution in vollem Gange war, sei die politische Dimension wichtiger geworden. „Ich wollte erzählen, wie sich dieses Land auf den Kopf stellt.“
Gemeinsam mit den Organisator*innen der Ausstellung hat er aus Tausenden von Bildern zehn ausgewählt. „Wichtig war uns dabei vor allem der lokale Bezug“, erklärt er und deutet auf das Foto der Lukaskirche, die in der DDR ein wichtiger Treffpunkt für Oppositionelle war, und die nur wenige Minuten vom Pöge-Haus entfernt liegt.
Ähnlich war es bei der Auswahl der Zeitzeug*innen, wie Sylvia Drevin berichtet. Sie war Teil des Teams, das die Interviews geführt hat, die nun an den verschiedenen Stationen zu hören sind. „Die meisten waren gleich bereit, mit uns zu sprechen“, erzählt sie. „Manche haben sich aber auch vor der Öffentlichkeit gescheut oder waren einfach der Meinung, dass sie nichts Erwähnenswertes zu berichten hätten.“ Sie hätten vor allem nach Menschen gesucht, die vor Ort aktiv waren, wie beispielsweise Ladenbesitzer*innen auf der Eisenbahnstraße oder die Gründer*innen des Vereins Neustädter Markt. Dieser wurde ins Leben gerufen, als die Gründerzeithäuser im Viertel Plattenbauten weichen sollten, und existiert noch heute.
Eine Zeitzeugin ist auch unter den Gästen: Marian Hartmann, seit 1975 Lehrerin an der Wilhelm-Wander-Schule, die nur eine Parallelstraße hinter dem Pöge-Haus liegt. Im Interview erzählt sie, wie ihre Schule 1992 von einer sogenannten polytechnischen Oberschule (der allgemeinen Schulform der DDR, eine zehnjährige Gesamtschule) in eine Grundschule umgewandelt wurde, wodurch es schlagartig viel weniger Schüler*innen gab und damit natürlich auch viel weniger Arbeit für die Lehrer*innen. „Ich bin putzen gegangen in der Zeit. Das war wirklich ein Abbruch.“
Gerade unterrichtet Hartmann zum letzten Mal eine vierte Klasse. Wenn die Schüler*innen im Sommer die Grundschule verlassen, wird auch sie es tun. „Wir Lehrer haben immer zusammengehalten“, sagt sie, „das war damals so und das ist immer noch so.“
Unter der Rubrik „Chancen“ schauen die Zeitzeug*innen schließlich in die Zukunft. Sie sind sich weitestgehend einig: Die Wahrnehmung, dass die Gegend um die Eisenbahnstraße besonders gefährlich sei, sei übertrieben und werde vor allem durch die Medien verstärkt. Alle sehen die weitere Entwicklung des Viertels optimistisch.
Vieles von dem, was in der Ausstellung zu sehen und zu hören ist, kommt einem bekannt vor, sei es nun der Schriftzug „Miethaie zu Fischstäbchen“ auf einem besetzten Haus oder ein Bild mit einer singenden Menschmenge und Deutschlandfahnen.
„Die Leute haben die Wende zwar äußerlich mitgemacht, aber nicht innerlich“, sagt Jehnichen. Viel von dem Frust, der damals auf die Straße getragen wurde, zeige sich heute erneut in Legida-Demos und AfD-Wahlergebnissen. „Genau deshalb sind solche Projekte wichtig, um die Zeit nach der Wende endlich richtig aufzuarbeiten“, sagt auch Drevin.
Die Ausstellung „Aufbrüche. Umbrüche. Abbrüche.“ war vom 19. bis zum 22. Dezember im Pöge-Haus zu sehen. Die Zeitzeug*innen-Interviews sollen im Januar auf der Website des Hauses veröffentlicht werden.
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