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  • Er klagt an

    „Intrige“ ist ein spannender, wunderschöner und tagesaktueller Film über die Dreyfus-Affäre. Er behandelt Antisemitismus, Loyalität und Gerechtigkeit. Sein großes Problem ist der Regisseur.

    Roman Polański hat zugegeben, mit einer 13-Jährigen geschlafen zu haben. Er kann nicht in die USA einreisen, weil ihm dort ein Prozess droht. Roman Polański hat deswegen in Frankreich einen Film gedreht. Dieser Film ist sehr gut. Das alles sind Aussagen, die in einem direkten Zusammenhang miteinander und deswegen auch damit stehen, was ich im Folgenden schreiben werde. Da es in „Intrige“ aber nur am äußersten Rande um die Beziehung zwischen Frauen und Männern geht und die einzige minderjährige Person im gesamten Film ungefähr zwei Sätze spricht – sie verkauft eine Zeitung –, halte ich es für möglich, in diesem Falle Kunst und Künstler voneinander zu trennen. Es steht jedem*jeder Leser*in frei, mir darin zu widersprechen.

    Picquart und Dreyfus sind beileibe keine Freunde.

    „Intrige“ dreht sich um die Dreyfus-Affäre, die die Französische Republik um die Jahrhundertwende in Aufruhr versetzte. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wurde der Spionage beschuldigt und von einem Militärgericht schuldig gesprochen, woraufhin das Parlament ihn auf die sogenannte Teufelsinsel vor Französisch-Guayana verbannte. Der Film erzählt die Geschichte von Oberst Marie-Georges Picquart, der als Geheimdienstchef Hinweise darauf entdeckt, dass Dreyfus gar nicht der Schuldige ist, sondern wegen des weitverbreiteten Antisemitismus‘ ein willkommenes Opfer in einer für das Militär peinlichen Affäre bietet. Picquart ist selbst Antisemit, wie er nicht müde wird zu erwähnen. Dennoch macht ihm die Ungerechtigkeit der Verbannung Dreyfus‘ zu schaffen. Sobald er merkt, dass niemand in der Führungsriege der Armee ein Interesse daran hat, den Fall neu aufzurollen, beginnt er selbstständig Nachforschungen anzustellen und gerät deswegen ins Visier der Armee. Er setzt seine Karriere aufs Spiel, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

    „Intrige“ ist ein klassischer Detektiv-Enthüllungs-Film, wie wir ihn schon oft gesehen haben. Das heißt aber nicht, dass er langweilig ist. Ganz im Gegenteil. Er macht so ziemlich alles richtig, was ein Film seines Genres richtig machen kann: Er zeigt die Stärken und Schwächen des Protagonisten, gibt klare Linien zwischen „gut“ und „böse“ vor und lässt die Zuschauer*innen vor der Skrupellosigkeit eigentlich nett scheinender Männer zurückschrecken. Die Optik des Paris des späten 19. Jahrhunderts ist wunderschön. Zimmer sind mit Holzmöbeln versehen, Wände in fantastischen Farben gestrichen und Bärte kunstvoll gezwirbelt. Es gibt eine Cancan-Szene, viel Alkoholkonsum und erste Autos, die sich noch mit Pferdekutschen das Kopfsteinpflaster teilen müssen.

    Das zentrale Thema des Films ist natürlich der Antisemitismus. Antisemitismus im 19. Jahrhundert ist ein anderes Biest als jener des 21. Jahrhunderts. Ihn zu sehen sensibilisiert dennoch dafür, ihn auch in der heutigen Gesellschaft und in sich selbst zu erkennen. Zentrale Narrative des „reichen Juden“, dem es vor allem anderen ums Geld und den Gewinn geht, der Politik und Justiz aus dem Hintergrund beeinflusst und keine Loyalität kennt, bestehen heute noch fort. Eine besonders erschreckende Szene des Films zeigt einen Aufruhr, nachdem eine Zeitung die Indizien für die Unschuld Dreyfus‘ veröffentlichte. Im ersten Moment schien es ein Protest gegen das ungerechte Urteil zu sein, ausgelöst durch den Artikel mit dem legendären Titel „J’accuse“, „Ich klage an.“ Aber spätestens als jemand „Tod den Juden“ auf ein Schaufenster schreibt, dreht sich das Bild: Dies ist kein Aufstand gegen die Ungerechtigkeit, sondern dagegen, dass jemand es wagt, einen Juden zu entlasten. Die Szene zeigt, wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ihre Bedeutung verlieren, sobald sich Rassismus in die Debatte einschleicht. Sie zeigt, wie wichtig es ist, Diskriminierung vom ersten Tag an entgegenzutreten.

    Picquarts Geliebte und ihr nichtsahnender Ehemann

    Hier wäre für Polański ein wenig Reflektion angebracht. Denn in „Intrige“ gibt es weit mehr Schnurrbartarten als weibliche Sprechrollen. Die einzige Frau mit Einfluss auf die Handlung ist Pauline Monnier (Emmanuelle Seigner), Picquarts Geliebte – natürlich ausschließlich in ihrer Funktion als solche. Sie ist sein wunder Punkt, die Stelle, die ihm schlussendlich zum Verhängnis wird. Den Bechdel-Test hat dieser Film nicht nur nicht bestanden, er ist von einem Bestehen so weit entfernt wie Französisch-Guayana von Paris.

    Der Film hat noch andere, weniger bedeutende Schwächen, die bei der meisterhaft inszenierten Handlung aber nicht ins Gewicht fallen. Es fällt mir trotzdem schwer, eine Empfehlung für den Film auszusprechen. Wäre er aus dem Jahre 1962 könnte ich ihn als „fehlerhaften Klassiker“ bezeichnen, aber ein Film aus dem Jahre 2019 muss anderen Standards entsprechen. Es macht Spaß, ihn zu sehen, keine Frage. Aber es gibt genug ausgezeichnete historische Kostümdramen, um einem Menschen wie Roman Polański kein Geld in die ohnehin tiefen Taschen spülen zu müssen. Das macht sein Kunstwerk nicht weniger gut. Es verdient aber auch keine Unterstützung.

     

    Ab 2. Februar im Kino

    Fotos: Guy Ferrandis

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