Musik sehen, Tanz hören
Die Oper Leipzig stellt die aktuelle Saison unter den Schwerpunkt „Gegen das Vergessen“. Gezeigt wird auch das Ballett „Lamento“, das von Trauer, Abschied und der Sehnsucht nach Freiheit handelt.
„Lamento“ – das bedeutet so viel wie Gejammer oder heftige Klage. Lamento ist aber auch ein Synonym für Klagelied. Gleichzeitig ist dies auch der Titel des neuen Balletts von Mario Schröder in der Oper Leipzig. Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau begeht die Oper Leipzig die Saison 2019/20 unter dem Themenschwerpunkt „Gegen das Vergessen“. Neben Schröders Ballettabend beschäftigen sich auch die Opern „Über.Leben!“ und „Der Sturz des Antichristen“ mit dieser Thematik. Am 8. Februar fand die Premiere von „Lamento“ in der Oper Leipzig statt, bis Ende der Saison im April 2020 wird das Ballett in der Oper Leipzig gezeigt.
„Blühende Landschaft“
Die Themen des Abends sind Liebe, Trauer, Abschied und die Sehnsucht nach Freiheit. Dass man für die Themen keine Worte braucht, unterstreicht der freischaffende Opernregisseur Thilo Reinhardt bei der Einführung: „Sie sehen die Musik, Sie hören den Tanz.“ Das Ballett verbindet zwei Stücke miteinander, „Blühende Landschaft“ und „Sinfonie der Klagelieder“.
Der erste Teil des zweiteiligen Ballettabends wurde bereits 2013 vom heutigen Ballettdirektor und Chefchoreograf der Oper Leipzig Mario Schröder inszeniert. „Blühende Landschaft“ soll für das Verhältnis der Company zur Stadt Leipzig und dessen Geschichte stehen, beschreibt Schröder sein Stück. Viele Tänzer*innen kommen aus Ländern, die noch immer von Unfreiheit und Konflikten geprägt sein. Der Titel ist auch eine Anspielung auf ein Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Dieser sagte in einer Fernsehansprache 1990: „Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren in den neuen Bundesländern blühende Landschaften gestalten werden.“ Diese blühenden Landschaften sind für Schröder noch immer nicht vollständig realisiert. Tänzerisch begleitet werden Udo Zimmermanns „Lieder einer Insel“ und Werke von Sebastian Bach.
Dieser komplexe Inhalt soll im Ballett erzählt werden, dies wirklich zu verstehen scheint ohne Erklärung oder die Einführung vor der Vorstellung schier unmöglich. Auf der Bühne ist so viel los, dass es schwerfällt, den Fokus nicht zu verlieren. Ein großer Teil der Company tanzt, daneben ein Pas de Deux und meist noch ein Solo dazu. Im Hintergrund ist Schrift zu sehen, Zitate, die über die Wand laufen wie ein Bildschirmschoner, jedoch nicht das Kohl-Zitat. An anderer Stelle sind Zahlen zu sehen, die, gewollt oder nicht, an „Matrix“ erinnern. Der historische Zusammenhang wird erst deutlicher, als Bilder zu sehen sind, die die Sprengung der Paulinerkirche auf dem Augustusplatz in Leipzig durch die SED 1968 zeigen. Die vielen Komponenten auf der Bühne scheinen weniger miteinander als gegeneinander zu arbeiten. Wenn die Aufmerksamkeit auf der gesprengten und sich dann wiederaufrichtenden Kirche liegt, verpassen die Zuschauenden den Tanz. Achtet man auf das Pas de Deux am Rand der Bühne, gleiten der Rest des Ensembles oder die Soli aus dem Blick. Auch wenn das Bühnenbild und die Kostüme stark reduziert sind, ist es trotzdem zu viel, um alles auf einmal zu genießen.
„Sinfonie der Klagelieder“
Während der erste Teil ohne klaren Erzählstrang verwirrt und oft überladen wirkt, überzeugt der zweite mit einer Linie, der man gut folgen kann. „Sinfonie der Klagelieder“ ist eine Neuinszenierung Schröders basierend auf der dritten Sinfonie des polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki. Der polnische Komponist wurde 1933 in Schlesien geboren und verarbeitete in seiner Sinfonie verschiedene Arten von Trauer und Abschied. Am Anfang steht ein Klagelied Marias, der Mutter Jesu, aus dem 15. Jahrhundert, darauf folgt ein Gebet einer 18-jährigen Inhaftierten aus einer Zelle des Gestapo-Hauptquartiers 1944 in Zakopane, sowie ein oberschlesisches Volkslied, in der eine Mutter den Tod ihres Sohnes beklagt.
Mit der Hintergrundgeschichte, welche im Programmheft nachlesbar ist oder in der Einführung erzählt wird, im Kopf fällt es leicht, dem Ballett zu folgen. Ohne ist es wahrscheinlich schwer, auf der Bühne Maria oder ein Gestapo-Gefängnis zu erkennen. Denn bühnenbildnerisch werden die Motive eher abstrakt umgesetzt. Während des ersten Teils fallen Stofffetzen von der Decke, die an Ascheregen erinnern. Die dunklen Kostüme, sowie das gedimmte Licht in Kombination mit der schweren Musik und dem Gesang der Sopranistin Lenka Pavlovič lassen einen die Trauer deutlich nachfühlen. Im nächsten Teil werden Glasquader von der Decke gelassen und schließen die Tänzer*innen eng in sich ein. Der Schluss ist wieder ein wenig offener gefasst. Das Ensemble tanzt frei über die Bühne und trägt dabei kurze hellblaue Kostüme, die mit sehr viel Fantasie an Schürzen von schlesischen Trachten erinnern.
„Lamento“ ist ohne Frage ein modernes Ballett, das ohne Hintergrundwissen nicht sehr aussagekräftig ist. Während die Musik klassisch ist, sind Tanz, Bühnenbild und Kostüm alles andere als typisch für das Sinnbild eines Gedankens an Ballett zu Musik von Bach.
Jeder Vorstellung geht eine Einführung voran, die man nutzen sollte, um die Gedanken hinter der Inszenierung zu verstehen. Denn Ballett, das „Gegen das Vergessen“ arbeiten will, bewirkt nur etwas, wenn die Zuschauenden sich dem Geschehenen auch bewusst sind und somit die Möglichkeit bekommen zu erinnern.
Fotos: Ida Zenna
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