Weniger ist mehr
Nur so viel zu besitzen, wie man wirklich braucht, macht den Kopf frei und ist außerdem gut fürs Klima. Kolumnistin Naomi hält ein Plädoyer für den Minimalismus.
Nach meinem Abi bin ich im Sommer 2018 zu einer Interrail-Reise aufgebrochen. Da ich allein unterwegs war, war mein Gepäck auf das begrenzt, was ich allein tragen und vor allem allein auf die Gepäckablage im Zug und wieder herunterbekommen konnte. Für eine, die vorher meistens mit großem Rollkoffer in der noch größeren Familienkutsche verreiste, war das nicht viel.
Als ich dann nach sechs Wochen Aus-dem-Rucksack-Leben wieder in mein vollgestopftes Zimmer zurückkam, hatte ich das Gefühl, in Zeug zu ertrinken. Ich war zwar nie jemand, der Dinge hortet und nichts wegwerfen kann, aber voll und chaotisch war es bei mir allemal, und auf einmal störte es mich, obwohl es mir vorher nie etwas ausgemacht hatte.
Die nächsten Tage verbrachte ich also damit, mein Zimmer radikal auszumisten. Alte Schulsachen, Klamotten, Deko, der ganze Krimskrams, der unter meinem Bett einstaubte – alles, was ich nicht mehr brauchte, wurde entweder verschenkt oder landete in Kisten im Keller, wo es auf den nächsten Flohmarkt wartete. Als ich ein paar Monate später nach Leipzig zog, musste ich mich noch einmal verkleinern, denn wir bewältigten den ganzen Umzug inklusive Möbel nur mit dem Anhänger meines Vaters.
Und als ich dann auch nicht mehr einfach in den Keller gehen konnte, um dieses oder jenes alte Kinderbuch doch noch einmal hervorzuholen, kapierte ich langsam, warum es plötzlich so wichtig gewesen war, warum ich alles Überflüssige als Ballast auf der Seele spürte: Die Dinge stehen zwar nur rum. Aber sie fangen Staub. Und vor allem lenken sie ab.
Ich stehe morgens keine halbe Stunde mehr vor meinem Kleiderschrank, weil ich zwar vierzig T-Shirts besitze, aber auf keins davon gerade Lust habe. Ich stelle mein Fensterbrett nicht mehr mit billigen Souvenirs zu, weil ich – Achtung Kitschalarm – die wirklich wichtigen Erinnerungen im Herzen trage. Und die weißen Wände meiner Wohnung sind eine leere Leinwand für meine Gedanken. Die Zeit und den Raum, die ich dadurch gewinne, verbringe ich mit Dingen, die mir wichtig sind: Freunde treffen, Sprachen lernen, diesen Text schreiben.
Eine Veränderung stieß die nächste an: Es dauerte eine Weile, aber inzwischen habe ich fast mein ganzes Make-up verschenkt, das ich sowieso kaum benutzt, aber immer noch aufbewahrt habe für einen Anlass, der nie kam, bis ich mich von der Erwartung frei machen konnte, Frauen hätten sich zu festlichen Anlässen zu schminken. Und je länger und bewusster ich entschied, bevor ich etwas kaufte, desto mehr bemerkte ich die unterbewussten Effekte, die Werbung auf uns hat und fing an, sie zu hinterfragen.
So merkte ich, dass etwas, das ich eigentlich nur für mein persönliches Wohlbefinden tue, vielleicht auch eine größere Relevanz haben könnte: Minimalismus ist meine kleine private Rebellion gegen die Konsumgesellschaft. Wenn wir das Klima retten wollen, reicht es nicht aus, einfach alle Kohlekraftwerke durch Windräder zu ersetzen. Wir müssen auch weniger konsumieren, uns wieder erinnern, dass es noch anderen Wohlstand gibt als den rein materiellen und dass Freiheit mehr ist als nur die Freiheit, jederzeit alles kaufen zu können. Billiges Fleisch und Fast Fashion sind zwei der bekannteren Beispiele, aber das betrifft auch alle anderen Bereiche des täglichen Lebens. Wem das jetzt schon wieder nach Verzicht und Verbot klingt – bleibt noch bis zum Ende dieses Textes bei mir! Minimalismus bedeutet nämlich nicht, möglichst wenig zu besitzen, sondern nur die Dinge, die man wirklich braucht – zum Beispiel so etwas Unschönes wie Putzzeug – oder die einem ehrlich Freude bereiten – zum Beispiel so etwas Unnötiges, aber Wunderbares, wie Bücher! Niemand muss Diogenes werden und in eine Tonne ziehen, und schon gar nicht über Nacht. Minimalismus ist kein Wettkampf, wer am Bescheidensten leben kann – für mich ist es auch eine Reise, nur keine quer durch den Kontinent, sondern eine in ein selbstbestimmteres Leben.
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.