„Sozialer Kontakt ist für Menschen so wichtig wie ihr täglich Brot“
Was machen Kontaktverbot, Enge und Isolation mit uns? Wie können wir aufeinander Acht geben und welche Routinen helfen uns dabei? Die Leipziger Psychologin Cornelia Exner gibt Rat.
Cornelia Exner ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Leipzig und leitet die psychotherapeutische Hochschulambulanz. luhze-Redakteur David Will sprach mit ihr über das bundesweite Kontaktverbot, den Umgang mit Isolation und Enge und darüber, wie Routinen uns helfen können.
luhze: Seit Montag gilt ein bundesweites Kontaktverbot. Was macht es mit Menschen, wenn sie sich nicht mehr mit anderen treffen können und Körperkontakt meiden sollen?
Exner: Das ist für uns alle eine extreme Ausnahmesituation. Sozialer Kontakt ist für Menschen genauso wichtig wie ihr täglich Brot. Ganz viele basale Bedürfnisse von Menschen laufen über persönliche Kontakte: Gegenseitige Unterstützung, körperliches Wohlbefinden, der intellektuelle Austausch, gemeinsam verfolgte Ziele – all das setzt voraus, dass wir Kontakt mit Menschen haben. Diese wichtigen Bedürfnisse bleiben jetzt unerfüllt oder sie müssen neue oder unvertraute Ausdrucksformen finden. Darauf reagieren Menschen unterschiedlich. Junge Leute oder solche, die durch ihren Beruf schon technische Formen des Austauschs gewohnt sind, finden vielleicht schneller einen Ausweg, zum Beispiel über Videokonferenzen. Für andere ist der persönliche Kontakt doch sehr wichtig, gerade für ältere Menschen. Die leiden jetzt besonders unter der derzeitigen Situation.
Was bedeutet das Kontaktverbot für Menschen mit psychischen Problemen?
Nach unserem Eindruck reagieren viele sehr gefasst und vernünftig auf die Situation. Es besteht eine große Bereitschaft, sich an die Auflagen zu halten und auf anderen Wegen in Kontakt zu bleiben, zum Beispiel über Videotherapie. Auf der anderen Seite stellt das diese Menschen natürlich vor besonders große Schwierigkeiten. Menschen, die schon vorher Ängste hatten und den Kopf nicht gut von ihren Sorgen frei kriegen konnten, fällt es schwer, die Gedanken auch mal auf etwas anderes als Corona zu lenken. Eine andere Gruppe sind Menschen, die auch so schon einsam sind, wenig Kontakte haben, nicht wirklich wissen, wie sie ihre Zeit füllen oder Anregung und Ablenkung finden können. Sie geraten in noch größere Isolation und Deprivation, wenn die sozialen Kontakte fehlen.
Ich möchte noch eine dritte Gruppe erwähnen: Die Menschen, die vielleicht bisher schon in konflikthaften Beziehungen standen, wo die Beziehung zum Partner oder zu den Kindern nicht so gut funktioniert hat. Diese Familiensysteme geraten jetzt unter besonderen Druck, wenn die Menschen quasi 24/7 aufeinanderhängen. Die Kinder sind nicht betreut, ihnen fehlen die Routinen, die Bewegung, die Freunde. Wenn man schon unter normalen Umständen Streitschwierigkeiten miteinander hat, dann bedeutet das jetzt natürlich besonders viel Druck.
Was können wir tun, um mit dieser Isolation und Enge zurechtzukommen?
Wir alle – auch die, die sich bisher davon nicht sonderlich stark angesprochen gefühlt haben – wurden jetzt in das Zeitalter der digitalen Kommunikation katapultiert. Wer damit noch keine Erfahrung hat, muss sich das erschließen. Das ist sowohl für die privaten Kontakte wichtig als auch für den Kontakt zu Kollegen, mit denen man jetzt nicht mehr zusammenkommen kann. Das Gemeinschaftsgefühl, das man sonst aus der Arbeit zieht, muss man sich jetzt auf anderem Wege erschließen. Wem die technischen Möglichkeiten oder die Fähigkeiten fehlen: anrufen oder wirklich mal einen Brief schreiben. Ich habe schon von Kindern gehört, die etwas für ihre Großeltern gebastelt und das dann verschickt haben. Man muss sich jetzt über Zeichen verständigen und signalisieren: „Du bist nicht alleine, wir denken an dich.“ Das ist die Botschaft, die unbedingt rüberkommen muss.
Und wie kann ich Konflikte entschärfen, wenn ich Menschen nicht mehr aus dem Weg gehen kann?
Solange man nicht unter Quarantäne steht, darf man ja immer noch raus. Da sind Absprachen sicher sinnvoll: Dass zum Beispiel mal der eine Partner mit den Kindern rausgeht oder dem andern ermöglicht, alleine rauszugehen, um Zeit für sich zu haben und Ruhe zu finden, wenn es in der Familie gerade sehr angespannt zugeht. Alte, seit langem schwelende Konflikte sollte man zurückstellen, sofern das möglich ist. Das ist nicht die Zeit, in der die Themen auf den Tisch gehören, die man schon immer mal austragen wollte. Nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, auch mal einen durchgehen lassen. Akzeptieren, dass die Situation für alle angespannt ist. Die Akzeptanz müssen wir alle haben: Dass wir alle in dieser Situation mehr Fehler im Umgang miteinander machen.
Der Umgang mit dem Coronavirus verändert unseren Alltag und zwingt uns ungewohnte Routinen auf: ständig die Hände waschen, immer auf Abstand bleiben. Selbst bei den besten Absichten kann es uns schwerfallen, immer daran zu denken. Wie können wir diese Abläufe besser verinnerlichen?
Routinen haben diesen Januskopf: Einerseits kann es im Alltag eine Stütze sein, nicht über alles nachdenken zu müssen. Eine Gefahr von Routinen ist aber, dass sie nicht einfach zu ändern sind, weil sie eben nicht mehr unserer bewussten Kontrolle unterliegen. Wir entscheiden uns nicht für eine bestimmte Handlung, sondern sie läuft quasi automatisch ab. Diese automatische Verarbeitung zu unterbrechen erfordert sehr viel Aufmerksamkeit. Im Grunde müssen wir neue Routinen aufbauen und damit die alten hemmen. Da bietet es sich an, an vorhandene Abläufe anzuknüpfen. So entsteht quasi eine Kopplung: Ich komme nach Hause, ziehe die Schuhe aus und als nächstes wasche ich mir automatisch die Hände. Wenn Sie niesen oder husten und der erste Impuls ist wie früher, die Hand vor den Mund zu halten – führen Sie diese Bewegung um oder husten Sie einfach noch einmal in die Ellenbeuge. Je häufiger man das macht, desto besser kann dieser neue Ablauf sich verfestigen. Aber man muss sich klarmachen: Das dauert und kostet viel konzentrierte Aufmerksamkeit, die man nicht in jedem Moment hat.
Viele Menschen fühlen sich hilflos, wenn die Nachrichten zu Infizierten- und Todeszahlen auf sie einprasseln. Wie kann man diese Überforderung verhindern?
Zum einen ist es gut, dass wir die Möglichkeit haben, uns über die Medien zu informieren. Außerdem erzeugt das ein gewisses Gemeinschaftsgefühl: Wir wissen, dass wir jetzt alle in derselben Situation sind. Aber es kann auch dazu führen, dass man sich überhaupt nicht mehr von dem Thema distanzieren kann, dass die Erholung und das Abschalten nicht mehr möglich sind. Darum muss man sich selbst disziplinieren. Auf keinen Fall sollte man Push-Nachrichten zulassen, die einem quasi von außen etwas aufdrängen. Stattdessen sollte man selbst die Kontrolle über den Zeitpunkt und die Häufigkeit des Nachrichtenkonsums gewinnen. Auch hier helfen wieder Routinen: Vielleicht gewöhne ich mir an, dass ich mir morgens und abends die Corona-Infektionszahlen anschaue – und dazwischen halt nicht.
Wer sich dafür interessiert, der findet auf der Uni-Website weitere Hinweise zum Umgang mit der Corona-Krise.
Foto: Universitätsarchiv Leipzig, Michael Bader
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